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120 Jahre Deutsche Grammophon

Tradition im steten Wandel

Seit 120 Jahren steht die Deutsche Grammophon für Innovation. Gleichzeitig pflegt sie wie kein anderes Label ihre eigene Geschichte.

vonMaximilian Theiss,

Eigentlich ist der Name „Deutsche Grammophon“ gleich in doppelter Hinsicht irreführend. Einmal täuscht das Wort „Grammophon“ darüber hinweg, dass die Begeisterung für neuartige Medien von der Schallplatte über das Magnetband und die CD hin zum Download und Streaming wesentlicher Bestandteil der Firmenphilosophie und -geschichte ist. Und das Wort „Deutsch“ darf keinesfalls kulturell verstanden werden, sondern lässt sich lediglich als Hinweis auf den Hauptsitz und den Gründungsort des Unternehmens verstehen, denn seit 1898, als Emil und Josef Berliner in Hannover die „Deutsche Grammophon Gesellschaft“ gründeten, war das Unternehmen international ausgerichtet: Die ersten Sänger, die bei den Berliner-Brüdern Schallplatten aufnahmen, stammten aus Italien, den USA, Russland oder gar aus Australien wie der große Opernstar Nellie Melba. Zu den ersten Kunden wiederum gehörten unter anderem das britische und das spanische Königshaus. Auch die gegenwärtigen Feierlichkeiten zum 120-jährigen Bestehen des Unternehmens sind denkbar international: Die Konzertreihe „Yellow Lounge“, bislang in Szeneclubs deutscher Großstädte beheimatet, feierte im September ihre fulminante Asienpremiere in Tokio und Peking, und auch für das erste Galakonzert der 120-Jahr-Veranstaltungen im Oktober suchte sich das Label mit dem Kaiserlichen Ahnentempel an der Mauer zur Verbotenen Stadt in Peking einen atemberaubenden Spielort aus. Weitere Konzerte fanden und finden in ganz Asien und Europa statt.

DG120. Galakonzert in Peking. V.l.: Clemens Trautmann (Geschäftsführer der Deutschen Grammophon), Long Yu, Heinz Ferlesch, Toby Spence, Ludovic Tézier, Mari Samuelsen und Aida Garifullina
DG120. Galakonzert in Peking. V.l.: Clemens Trautmann (Geschäftsführer der Deutschen Grammophon), Long Yu, Heinz Ferlesch, Toby Spence, Ludovic Tézier, Mari Samuelsen und Aida Garifullina © Julia Schoierer

„Synonym für Klassik“: Die Deutsche Grammophon

Als Konzertveranstalter im klassischen Sinn will die Deutsche Grammophon indes nicht auftreten, wie Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon, erklärt: „Vielmehr geht es bei diesen Abenden darum, dass unsere Künstler dichter an unsere Fans und Zuhörer heranrücken und in direkten Austausch mit ihnen treten.“ Die Veranstaltungen bestreiten natürlich Künstler der Deutschen Grammophon, darunter Daniel Barenboim, Anne-Sophie Mutter oder Lang Lang, denn auch das stete Bestreben, die wichtigsten Künstler für das Label zu gewinnen, gehöre für Trautmann zur „Kern-DNA“ des Unternehmens: „Von Anfang an steht die Deutsche Grammophon für verbindliche Aufnahmen mit den wichtigsten Künstlern der jeweiligen Generation.“

Herbert von Karajan und Anne-Sophie Mutter, ca. 1978
Große Künstler der Deutschen Grammophon: Herbert von Karajan und Anne-Sophie Mutter, ca. 1978 © Siegfried Lauterwasser/DG

In diesem Zusammenhang spricht Trautmann gerne davon, dass die Deutsche Grammophon zum „Synonym für Klassik“ geworden sei, wobei er gleichzeitig betont, dass damit ein wesentlicher Bestandteil in der Geschichte des Unternehmens zu wenig wahrgenommen werde: „In der Vorkriegszeit produzierte die Deutsche Grammophon durchaus auch hochwertige Unterhaltungsmusik, etwa mit Otto Reutter oder Theo Lingen. In den Sechzigerjahren wiederum standen wir für Avantgarde, Minimalismus oder elektronische Musik.“ Gegenwärtig blickt die Deutsche Grammophon insbesondere mit der sogenannten Neoklassik über die Genregrenzen hinweg mit Künstlern wie Max Richter oder Chilly Gonzales.

Ganz im Sinne der Firmenphilosophie legt Trautmann großen Wert darauf, dass die Symbiose zwischen Künstler und Unternehmen aufrechterhalten wird und bezeichnet sie als „sich selbst verstärkenden Mechanismus: Ein Newcomer, der bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag steht, bekommt durch das Label ein gewisses Qualitätssiegel, während auf der anderen Seite die Deutsche Grammophon ohne ihr Künstlerkollektiv eine leere Hülle wäre.“ Sieht man sich die aktuellen Alben der Deutschen Grammophon an, fällt ein weiterer Anspruch an sich selbst ins Auge: Nach wie vor wird der Repertoirepflege große Bedeutung beigemessen. Daniil Trifonov etwa veröffentlichte jüngst den ersten Teil seines Zyklus’ aller vier Klavierkonzerte Rachmaninows.

Vorreiter bei technischen Neuerungen

Jedoch sollte für die Deutsche Grammophon zu keiner Zeit der Interpret hinter dem Werk stehen, wie Trautmann erklärt: „Es gab zu allen Zeiten zwei Arten von Veröffentlichungen: Auf der einen Seite leisten Künstler zu bestimmten Komponisten und Werken ihren Beitrag, auf der anderen Seite gibt es aber genauso Veröffentlichungen, die den Interpreten in den Mittelpunkt stellen.“ So war es auch schon 1902, als die erste Aufnahme mit Enrico Caruso erschien.

Schellack-Rohmasse in der Presse
Schellack-Rohmasse in der Presse © DG Archive

Damals wie heute war die Deutsche Grammophon Vorreiter bei technischen Neuerungen: Zehn Jahre nach der Erfindung des Phonographen meldete Emil Berliner 1897 mit dem Grammophon das Patent für ein weiterentwickeltes Gerät zur Aufnahme und Wiedergabe von Tönen an. Da die scheibenförmigen Tonträger, die Berliner schon damals als „Schallplatte“ bezeichnete, für diesen Apparat wesentlich kostengünstiger herzustellen waren als die Walzen eines Phonographen, setzte sich Berliners Erfindung auf dem Markt durch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die Firma als erstes Klassiklabel ausschließlich Magnetbänder für ihre Aufnahmen, zudem war sie an der Entwicklung der Kompaktkassette beteiligt. 1982 läutete das Unternehmen zudem mit der CD-Produktion eine neue Ära ein. Als nach der Jahrtausendwende der virtuelle Tonträger in Gestalt von MP3-Dateien den Musikmarkt aufwirbelte, war die Deutsche Grammophon erneut die erste große Klassik-Schallplattenfirma, die ab 2007 ihre Aufnahmen in einem eigenen Webshop vertrieb. Auch das Streaming als jüngste Neuerung auf dem Tonträgermarkt sieht Trautmann als Chance – und begründet dies mit der vermeintlich altmodischen Grundhaltung, Musik zu produzieren, die nicht den schnellen Verkauf einbringt: „Beim traditionellen Geschäftsmodell wird eine Produktion fertiggestellt und dann abverkauft. Beim Streaming hingegen besteht das Geschäftsmodell darin, dass eine Produktion so gültig oder so fesselnd sein muss, dass die Hörer immer wieder zu dieser Aufnahme zurückkehren und neue Hörerkreise diese irgendwann als Referenz begreifen.“

So kumulieren sich die Erlöse aus dem Streaming Jahr für Jahr – beziehungsweise Klick für Klick, bemisst sich doch der Umsatz bei Streaming-Diensten danach, wie häufig ein Track oder ein Album tatsächlich gehört wird. Die von Puristen gerne gescholtenen Playlists und automatisierten Algorithmen wiederum begreift Trautmann als logische Fortsetzung des klassischen Tonträgerverkaufs. „Früher hat ein guter Plattenhändler im Prinzip dasselbe gemacht: Er hat gesehen, für welche Aufnahme sich der Kunde gerade interessierte, und schlug ihm dann alternative Aufnahmen vor.“

Zurück zu den Anfängen mit dem „Schellack-Projekt“

Aus diesem Grund hat die Deutsche Grammophon im Sommer auch die Zusammenarbeit mit dem Streaming-Dienst Apple Music ausgebaut und betreut dort ihr eigenes Kuratorenprofil. Dadurch möchte das Label den Hörern eine Orientierung geben in einem immer unübersichtlicher werdenden Tonträgermarkt, der inzwischen mehr als 20 000 Neuveröffentlichungen jährlich verbucht – allein im Segment der Klassik. „Sowohl die Kenner wie auch die Gelegenheitshörer suchen nach etwas Verbindlichem, worauf sie sich verlassen können, denn die Zeitbudgets der Menschen sind knapp. Als Kurator bei Apple Music oder als Radiostation bei Amazon Music signalisieren wir: Hier findest du Aufnahmen und Produktionen, die wir mit einer besonderen Hörempfehlung versehen haben.“ Wobei das nicht nur für Neuerscheinungen gilt: Den vierzig bis fünfzig Neuveröffentlichungen pro Jahr steht bei der Deutschen Grammophon in etwa dieselbe Anzahl an Wiederveröffentlichungen historischer Aufnahmen gegenüber in Form von Einzelveröffentlichungen oder in CD-Boxen. Mit dem „Schellack-Projekt“ geht das Unternehmen sogar noch einen Schritt weiter, indem es gemeinsam mit Google Arts & Culture rund 400 historische Aufnahmen aus der Anfangszeit nach und nach digitalisiert und damit der Allgemeinheit zugänglich macht.

Mitarbeiterinnen an Pressmatrizen, ca. 1950er-Jahre
Mitarbeiterinnen an Pressmatrizen, ca. 1950er-Jahre © DG Archive

Von der Transaktions- zur Aufmerksamkeitsökonomie

Es entbehrt dabei nicht der Ironie, dass ausgerechnet eines der ältesten Musiklabels Vorreiter auf dem völlig neuartigen Musikmarkt ist, der momentan in Deutschland verhältnismäßig wenig genutzt wird: Nach wie vor zieht man hierzulande ganz klar den physischen dem digitalen Tonträger vor. „In den USA hingegen verhält es sich schon umkehrt“, erklärt Trautmann: „Ein Viertel des Tonträgermarktes ist dort noch physisch, der Rest wird auf digitalem Wege vertrieben. Schon deshalb müssen wir künftig noch stärker auf die Aspekte des Repertoires und der Qualität konzentrieren, denn mit dem Streaming bewegen wir uns von einer Transaktionsökonomie in eine Aufmerksamkeitsökonomie: Für den Streaming-Abonnenten, der seine monatliche Pauschale unabhängig von seinen Hörkonsum entrichtet, stellt sich nur noch die Frage, ob er sich die Zeit nehmen will, diese oder jene Musik zu hören. Für uns wiederum bedeutet das, dass wir vor allem Interesse und Aufmerksamkeit wecken müssen.“

Auch die neuen Hörgewohnheiten spielen Klassiklabels wie der Deutschen Grammophon in die Karten. Allein die Tatsache, dass man hinsichtlich der Dauer von Einspielungen nicht mehr auf das Fassungsvermögen von Tonträgern angewiesen ist (Erich Kleiber etwa musste seinerzeit bei der Einspielung von Smetanas Moldau mit dem Nymphenreigen einsteigen, da das Gesamtwerk nicht auf eine Schallplatte passte), gibt Labels wie der Deutschen Grammophon die Möglichkeit, Einspielungen zu veröffentlichen, die sich nicht an den achtzig Minuten orientieren müssen, welche die CD als Medium vorgibt.

„Das Storytelling des Künstlers wird wichtiger“

Dadurch haben sich auch die Herausforderungen an die gegenwärtigen Musiker verändert: Gab es früher im Plattenladen eine begrenzte Anzahl von Interpretationen eines Werks, sind nun auf den Streaming-Portalen praktisch alle jemals erschienenen Aufnahmen nebeneinander abrufbar. „Ich glaube, dass man sich als Künstler künftig stärker überlegen muss, mit welchem Repertoire man die bisherigen großartigen Aufnahmen noch übertreffen oder welches Kapitel man der Interpretationsgeschichte noch hinzufügen kann, ohne dass sich die Neuaufnahme nur in Nuancen von bereits existierenden Aufnahmen unterscheidet“, erklärt Trautmann. Auch müsse der Musiker heutzutage nicht nur mit seinen Aufnahmen ein künstlerisches Narrativ erzeugen, sondern auch über die sozialen Medien: „Das Storytelling des Künstlers wird wichtiger. Das ist eigentlich auch unser zentraler Ansatz dieses 120-Jahres-Jubiläums: Wir wollen vermitteln, dass die klassische Musik eine emotionale Kraft hat, und Leute zu neuen Entdeckungen einladen.“ So aktuell dieser Ansatz ist: Er hätte auch von Emil und Jacob Berliner, den Gründern der Deutschen Grammophon, stammen können.

Sehe Sie hier den Trailer zur „120 Years Deutsche Grammophon – The Anniversary Edition“:

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