„In di lungen tif bagrobn woynt die blase pest“ – „In den Lungen tief begraben wohnt die blasse Pest“. Vor über hundert Jahren schrieb Solomon Smulewitz diese Liedzeile. „Mentshn-Fresser“ heißt die Ballade, mit der der Sohn eines jüdischen Kantors gegen die Epidemien seiner Zeit – Polio und Tuberkulose – ansang und sie mit den Auswüchsen von Krieg und Kapitalismus verglich. Im Corona-Sommer 2020 haben der aus den USA stammende Singer-Songwriter Daniel Kahn und die in der Ukraine geborene Sängerin Sveta Kundish dieses alte Lied für ein gemeinsames YouTube-Video ausgegraben: ein makabrer Kommentar auf die gegenwärtige Pandemie, begleitet von einem Klezmertrio mit Akkordeon, Geige und Tuba. Musik, die aktueller kaum sein könnte, entsprungen einer langen Tradition jüdischer Musik, gesungen in einer Sprache, die heute kaum noch jemand spricht: Jiddisch.
Was ist jüdische Musik?
Aber von welcher Tradition reden wir hier? Seit wann manifestiert und entwickelt sie sich auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands? Und wie lässt sich die sogenannte jüdische Musik begrifflich überhaupt fassen? Das sind Fragen, die sich anlässlich des aktuellen Festjahrs „1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ viele Musiker und Musikveranstalter derzeit bei der Auswahl ihrer Konzertprogramme stellen dürften. „Es ist schwierig, eine Chronologie der jüdischen Musik herzustellen, weil deren Tradition erst relativ spät verschriftlicht wurde und große Teile bis heute nicht verschriftlicht sind“, sagt Jascha Nemtsov, Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar und Leiter des Kantorenseminars an der Universität Potsdam.
Also arbeitet man sich – sobald von jüdischer Musik die Rede ist und man nicht gleich die Klezmer-Schublade öffnen möchte – in der Regel an den üblichen Verdächtigen ab: Felix Mendelssohn, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Paul Dessau, Kurt Weill, Mieczysław Weinberg – und natürlich an den erst spät wiederentdeckten Opfern des Nationalsozialismus wie Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff oder Pavel Haas. Mit letzteren befasst sich Jascha Nemtsov auch als Pianist, wobei sich ohnehin viele Werke verschollen geglaubter und vergessener jüdischer Komponisten des 20. Jahrhunderts in seinen Konzertprogrammen wiederfinden. Aber haben die Genannten überhaupt jüdische Musik geschrieben? Mit Blick auf das musikalische Idiom muss man diese Frage wohl für die meisten Werke verneinen. Und doch haben sich viele dieser Komponisten inhaltlich mit dem Judentum auseinandergesetzt.
Mendelssohn deutete das Alte Testment als Jude
Mendelssohn beispielsweise habe mit dem Librettisten seines Oratoriums „Elias“ gerungen, erklärt Nemtsov, „weil er gedrängt wurde, die Texte des Alten Testaments im christologischen Sinn zu deuten. Er hat sich geweigert und legte großen Wert darauf, das Alte Testament aus seiner eigenen Tradition heraus zu verstehen. Das ist bemerkenswert, weil das damals überhaupt nicht üblich war.“
Kurt Weill plante ab 1934 gemeinsam mit dem Schriftsteller Franz Werfel und dem Theaterregisseur Max Reinhardt die Uraufführung seines jüdischen Oratoriums „Der Weg der Verheißung“, in das auch synagogale Gesänge mit einflossen, während Arnold Schönberg sich schon ab Anfang der 1920er-Jahre intensiv mit dem Judentum befasste, wovon seine Oper „Moses und Aron“ und andere – teils auch religiöse – Werke Zeugnis ablegen.
Oft muss man für zweifelhafte Fundstücke sehr tief graben
Liegt der jüdische Bezug hier offen zutage, muss man bei einem Komponisten wie Gustav Mahler schon deutlich tiefer graben, um Fundstücke zutage zu befördern, die möglicherweise jüdischen Ursprungs sein könnten. Natürlich kann, wer möchte, in den slawisch oder orientalisch klingenden Skalen und den in Terzen spielenden Klarinetten im dritten Satz von Mahlers erster Sinfonie Anklänge an Klezmer-Musik finden, die der Komponist als Knabe womöglich irgendwo aufgeschnappt hat. Gute Gründe gibt es aber auch für die gegenteilige Meinung, die derlei Rückschlüsse ins Reich bloßer Spekulationen verbannt.
Wo also beginnt die jüdische Musik und wo hört sie auf? Ihr wesentliches Merkmal sei gerade ihre Vielfalt und Veränderbarkeit, gibt Nemtsov zu bedenken: „Religiöse Musik, weltliche Musik, Folklore, Lieder, Instrumentalmusik. Dazu kommt noch eine unglaubliche regionale Vielfalt: Die Musik sephardischer Juden, der Juden aus Nordafrika oder Indien unterscheidet sich gravierend von der Musik der Juden aus den USA oder Osteuropa. Nicht zu vergessen die Kunstmusik, also Musik von Komponisten für die Konzertbühne, die einen jüdischen Charakter hat.“ Zu ihrem Forschungsgebiet zähle die jüdische Musikwissenschaft daher alles, „was mit verschiedenen Ausdrucksformen der jüdischen Identität durch Musik zu tun hat“. Und diese Identität wurzelt im Glauben – auch wenn viele Juden heutzutage ihr Selbstverständnis eher ethnisch-kulturell begründen.
Im religiösen Bereich finden wir die ersten Spuren
Im religiösen Bereich finden wir auch die ersten authentischen Spuren jüdischer Musik, denn in der Synagoge wird meist singend gebetet und gelesen. Die musikalischen Motive, die sogenannten Tropen, mit denen die heiligen Schriften vorgetragen werden, sind vermutlich zweieinhalb Jahrtausende alt und wurden schon vor rund 1 200 Jahren mit neumenartigen Zeichen notiert, wohingegen die frühesten Niederschriften jüdischer Musik in Noten gerade mal bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Motive aus dem deutschen Minnesang, aus französischen und deutschen Volksliedern, dem gregorianischen Choral und dem Werk von Guillaume de Machaut finden sich dagegen schon im Mittelalter in den Melodien der aschkenasischen Synagogenmusik wieder, wie Nemtsov in seinem jüngst erschienenen Aufsatz „Musikalischer Ausdruck jüdischer Identität: Jüdische Musik in Deutschland“ anführt. Die religiöse, aber auch die jiddische Volksmusik der ursprünglich im deutschsprachigen Gebiet ansässigen aschkenasischen Juden speist sich somit aus ganz anderen Quellen als die Musik der sephardischen Juden, deren Ursprünge in Spanien und Portugal liegen.
Doch trotz vertrauter Anklänge war den christlichen Herrschern und Kirchenfürsten die musikalische Ausprägung der synagogalen Liturgie in deutschen Ländern ein Dorn im Ohr, was der staatlichen Forderung nach einer kulturellen Assimilation der Juden auch in ästhetischer Hinsicht Futter gab: „Nach der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 wurde die Musik sehr individuell. Jeder Mensch trat in einen persönlichen Dialog mit Gott ohne die Vermittlung eines Priesters. Dadurch entstand das Improvisationsartige der traditionellen Gesänge, ein Wirrwarr an Stimmen und Melodien mit jeweils eigenem Tempo und Rhythmus, wobei überhaupt kein Wert auf Schönheit gelegt wird“, erklärt Nemtsov. „Wichtig war die Aufrichtigkeit, Hingabe und emotionale Offenheit. Auf Aufnahmen von Gesängen großer Kantoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hört man sogar Schreie oder Schluchzen, etwas, das man vom Kunstgesang her nicht kennt. Deshalb haben die Christen den Gottesdienst in einer Synagoge immer als absolut chaotisch und hässlich empfunden.“
Die Orgel sollte Ordnung in das Chaos bringen
Abhilfe schaffen sollte im 19. Jahrhundert die Reformbewegung, im Zuge derer nun auch Instrumente im Gottesdienst erlaubt und sogar erwünscht waren. Namentlich die Orgel sollte eine disziplinie-rende Wirkung auf die singende Gemeinde ausüben, und an die Stelle einer bisher nur mündlich überlieferten liturgischen Musik traten nun in Druckausgaben standardisierte synagogale Gesänge von Komponisten wie Louis Lewandowski, Salomon Sulzer oder Samuel Naumbourg. Die Schere zwischen jüdisch-liturgischem Gesang und christlicher Kirchenmusik romantischer Ausprägung begann sich zu schließen – die Improvisation und mit ihr der Geist der Freiheit wurden aus der Synagoge verbannt. Bis sich im Zuge der im frühen 20. Jahrhundert aufkeimenden kulturzionistischen Bewegung Widerstand regte.
In Sankt Petersburg entstand mit der Gründung der „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ die nationale Strömung der „Neuen jüdischen Schule“. Denker wie der Religionsphilosoph Martin Buber und Künstler wie der Dichter, Maler, Musiker und Komponist Arno Nadel forderten eine Rückkehr zu den Quellen jüdischer Kultur und stemmten sich gegen den Geist der Assimilation. Neue liturgische Werke verknüpften traditionelle Elemente mit dem damaligen Stil der Zeit, schufen eine Synthese liberaler westeuropäischer mit orthodoxen osteuropäischen Strömungen. Eine Entwicklung, die durch die Shoah jäh beendet wurde, als jüdische Komponisten verfolgt und in Konzentrationslagern ermordet wurden, ins Exil flüchteten und ihre Musik – zum Teil bis heute – dem Vergessen anheimfiel. Die NS-Ideologie sprach Menschen jüdischer Herkunft jegliche geistig-künstlerische Schöpferkraft ab, eine antisemitische Verfemung, die sich bereits in dem Essay „Das Judenthum in der Musik“ wiederfindet, den Richard Wagner 1850 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ veröffentliche: „Der Jude, der an sich unfähig ist, weder durch seine äußere Erscheinung, noch durch seine Sprache, am allerwenigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künstlerisch kundzugeben, hat nichtsdestoweniger es vermocht, in […] der Musik, zur Beherrschung des öffentlichen Geschmackes zu gelangen.“
Nach dem Krieg stieß jüdische Musik auf reges Interesse
Nach dem Krieg waren ideologische Ächtungen dieser Art nicht mehr gesellschaftsfähig. Schnell entwickelte sich ein reges Interesse für jüdische Musik, das bis heute anhält, wovon zahlreiche Festivals wie die Jüdischen Kulturtage und das intonations-Festival in Berlin, der Yiddish Summer Weimar oder die Internationalen Tage Jüdischer Musik in Norddeutschland Zeugnis ablegen. Die Villa Seligmann in Hannover und das Jewish Chamber Orchestra Munich widmen sich dem jüdischen Musikleben in all seinen Facetten ebenso wie Forschungsstätten in Weimar und München sowie das Europäische Zentrum für jüdische Musik der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Dabei stehen auf der Beliebtheitsskala des Konzertpublikums die Musik der deutschen Reformsynagoge und die Klezmermusik an oberster Stelle.
Klezmermusik knüpft an den Gesang der Synagoge an
Wohl bis ins 15. Jahrhundert zurück reicht die Tradition der Klezmorim, jener fahrenden Volksmusikanten des aschkenasischen Judentums, die bei Festen und anderen Gelegenheiten aufspielten. Wenn Daniel Kahn heute mit Liedern wie dem „Mentshn-Fresser“-Walzer die Klezmermusik mit Gesang verbindet, ist das in gewisser Weise nur konsequent. Denn obwohl die Klezmorim reine Instrumentalmusik spielten, orientierte sich ihr Ausdrucksrepertoire schon immer am Gesang, genauer: an der liturgischen Vokalmusik der Synagoge. So ahmte anfangs die Violine, später die Klarinette die „Dreydlekh“, die musikalischen Verzierungen des Kantorengesangs nach: das Glissando („Glitshn“), das Schluchzen („Krekhts“), das Quetschen („Kneytshn“), das Auflachen („Tshoks“), die Flageoletttöne.
Wie in der Synagoge der Gesang wesentlich zum Verständnis und zur Auslegung der Tora und anderer heiliger Schriften beiträgt, andererseits aber auch individueller Ausdruck des Betenden ist, so nimmt auch Kahn, der sich meist selbst auf dem Akkordeon begleitet, eine enge Verbindung zwischen Wort und Musik für seine Kunst in Anspruch – ob er nun alte jiddische Lieder singt oder eigene Stücke: „Es geht um etwas Lebendiges, Dynamisches und Menschliches. Wir drücken uns selbst damit aus. Zugleich sind die Lieder das Mittel, um Menschen miteinander zu verbinden. Sie sind stabile Werkzeuge oder Behälter von Ideen. Das ist die wörtliche Bedeutung von Klezmer: Behälter des Gesangs. Ursprünglich war damit das Instrument gemeint, später der Musiker selbst.“
Den Fetisch und die Nostalgie durchbrechen
Kahn, der als Sohn einer jüdischen Mutter in Detroit geboren wurde und als 20-Jähriger in New Orleans erstmals mit Klezmermusik in Berührung kam, übersiedelte 2005 nach Berlin. Dort nahm er mit seiner Band The Painted Bird mehrere Alben auf, gründete das jiddische Kulturfestival „Shtetl Neukölln“ (inzwischen „Shtetl Berlin“) und steuerte für mehrere Stücke am Maxim Gorki Theater die Musik bei. Wenn der Singer-Songwriter, der seit Kurzem in Hamburg lebt, ein altes jüdisches Arbeiterlied singt, ein zynisches Anti-Nazi-Gedicht von Kurt Tucholsky oder eigene Poesie vertont, ist ihm wichtig, dass das Publikum neben den deutschen auch seine jiddischen und englischen Texte versteht. Daher arbeitet er auf Konzerten neuerdings mit Übertiteln. „Das durchbricht den Fetisch und die Nostalgie. Man kann die eigene Ignoranz nicht mehr genießen“, scherzt er, denn viel zu oft werde Klezmer nur unter dem Label des Exotischen oder als „Weltmusik“ vermarktet und wahrgenommen. „Die Klezmermusik hat eine kulturelle und historische Charakteristik. Zugleich liebe ich zutiefst viele stilistische Elemente, die andere für Klischees oder Kitsch halten: die echte, fröhliche, wilde oder auch traurige Klezmermusik, die jiddischen Theaterlieder, die richtig schmalzig und melodramatisch sind. Die Vorurteile und Erwartungen an diese Musik sind das eigentliche Klischee, nicht die Musik selbst.“ In der jiddischen Musik – wie in jeder Musik, die etwas zu sagen hat – geht es also darum, den „Behälter“ zu öffnen und unvoreingenommen hineinzulauschen, anstatt allein auf das Etikett zu vertrauen. Nur so dringen wir zum wahren Kern des Gehörten vor. In der Synagoge vor 1 700 Jahren genauso wie bei einem Gig mit Daniel Kahn.