„Es ist nicht ganz mein Gesangsfach, aber in diesem halboffiziellen Rahmen geht das sicher“, hat sich Anna Prohaska gedacht, als sie sich im tiefsten Corona-Lockdown spontan gemeinsam mit einem Liedbegleiter am Klavier auf dem Balkon ihrer Wohnung in Berlin präsentierte und die Arie „Sì, mi chiamano Mimì“ sang. Es sei eine gute Akustik gewesen, erinnert sie sich, schließlich ist ihr Balkon überdacht. Ein „halboffizieller Rahmen“: Das bedeutet, dass sich die gesamte Nachbarschaft und auch vorbeikommende Passanten unter dem Fenster der bekanntesten Sopranistin aus dem Ensemble der Berliner Staatsoper versammelten. Später kamen Fernsehteams hinzu. Das Live-Publikum, das in diesen Zeiten für Musikerinnen und Musiker so rar ist, sei ihr allerdings wichtiger gewesen als die Medien – „die Nachbarn, die auch sehr gerührt waren. Ich habe auch Leute auf der Straße kennengelernt, das war sehr schön, auch Menschen von gegenüber.“ „Il primo bacio dell’aprile è mio!“ – der erste Kuss im April werde ihr gehören, singt die an Tuberkulose erkrankte Hauptperson Mimì in Puccinis „La Bohème“. Eine „ideale Arie“ für diese Zeit, sagt Anna Prohaska. Sie sieht da einen Bezug zu der gegenwärtigen Gesundheitskrise: „Das war ja im März, als man noch dachte, man könne sich im April wieder küssen.“
Singen auf Balkons, wie es beispielsweise die Italiener während der strengen Ausgangsbeschränkungen begannen, bedeutet: Eine musikalische Öffentlichkeit trotz kleinen Rahmens zu erzeugen. Und der Text spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Melodie – wie man an den zahlreichen Corona-Songs im Popsektor sieht, welche meist Parodien auf bekannte Hits sind. Und weil Texte in der Musik zu Corona-Zeiten eine zunehmende Bedeutung haben, hat Anna Prohaska auch Kunstlieder gesungen in den fünf Konzerten auf ihrem Balkon. Zum Glück konnte sie hier ein bisschen Werbung für ihr neues Album „Paradise Lost“ nachholen. Eigentlich war dafür eine groß angelegte Promotion-Tour in etliche europäische Städte geplant – eine Tour, die wegen Corona ausfiel und sich auch nicht nachholen lässt. So erklang auf dem Balkon zum Beispiel das Lied „Auflösung“ von Schubert: „Geh’ unter Welt, und störe / Nimmer die süßen ätherischen Chöre!“, lauten die Schlussverse. In der CD-Zusammenstellung hört sich so ein Text zweideutig an, geht es doch um die vom Menschen zerstörte Natur.
Das Kunstlied als ideales Genre in der Corona-Krise
Anna Prohaska hat mit „Paradise Lost“ nicht zuletzt ihren eigenen künstlerischen Kommentar zur schwelenden Klimakrise abgeben wollen. Doch sie sieht das Kunstlied auch als eine Gattung an, die in der Corona-Pandemie stärker in den Fokus rücken könnte, in welcher die Konzertveranstalter sich an Abstandsregeln halten müssen. „Als Auftretende ist man immer ausschließlich zu zweit, und man kann auch Abstand zum Publikum halten.“ Anna Prohaska wird in der kommenden Saison „Artist in Residence“ im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt sein und stellt sich schon einmal darauf ein, dass ihre Liederabende vom kleinen in den großen Saal verlegt werden – was einerseits einem größeren Publikum die Gelegenheit zum Abstandhalten gibt und andererseits die intime Form des Liederabends in einem ungewöhnlich großen Rahmen ermöglicht.
Doch auch für Konzertsettings, die erst während der Corona-Krise weite Verbreitung fanden, ist das Kunstlied ein ideales Genre. Darüber macht sich zurzeit Thorsten Schmidt, der Intendant des Heidelberger Frühlings, Gedanken. An der Liedakademie im Liederzentrum des Heidelberger Frühlings hat Schmidt vor allem mit jüngeren Sängerinnen und Sängern zu tun, die in der Krise auch die Chance zur Entwicklung von Online-Formaten sehen.
Schmidt möchte noch nicht alles verraten, was er da im Netz entdeckt hat, aber: „Das Kunstlied als solches ist eine wunderbare Chance zur Erfindung neuer Online-Konzertformate.“ Erst einmal sei ja der Text eines Liedes von Hugo Wolf oder Robert Schumann über das Mikrofon viel leichter verständlich als auf der Konzertbühne. Und: „Als Sängerin oder Sänger kann man das Publikum in einer mündlichen Erläuterung des Gesungenen im Netz viel direkter ansprechen, man kann Stücke anders kombinieren“ – schließlich falle der Zwang weg, eine normale Konzertdauer von zwei Stunden zu gestalten mit dem üblichen Spannungsbogen und einer Pause in der Mitte.
Auf dieser Basis möchte Thorsten Schmidt beim Heidelberger Frühling auch solche Liederabende erfinden, die rein für das Internet konzipiert sind. Da geht es nicht mehr um das pure Abfilmen und Streamen eines Liederabends mit verschiedenen Kameras. Schon früher, so Schmidt, habe das Kunstlied ja ganz stark von den Bedeutungsebenen des Textes gelebt, die es für die Zuhörenden zu entschlüsseln galt. Im Internet könne diese Entschlüsselung nun auch für ein Publikum funktionieren, das mit der Gattung des Liedes und mit Gedichten an sich noch nicht so vertraut ist. „Ich habe ganz andere Möglichkeiten, durch Raumwechsel, Einspielen von Bildern.“ Eine weitere Bedeutungsebene schaffen – dies könnte in der Krise für das Kunstlied, das von Konzertveranstaltern sonst oft stiefmütterlich behandelt wird, eine neue Chance werden.