Den „letzten Riesen in der Musik“
… nannte ihn Paul Hindemith, der sich ein Schaffen ohne Max Reger nicht vorstellen konnte. Auch Sergej Prokofjew war tief beeindruckt von dessen gewaltiger Kunst und Künstlerpersönlichkeit. Strawinsky hingegen – selbst kein Adonis –fand ihn äußerlich „genauso abstoßend wie seine Musik“. Dabei war Johann Baptist Joseph Maximilian Reger von Natur aus ein …
„G’standenes Mannsbild“ – von 1,89 Meter Größe
Ein streng katholischer Schulmeistersohn aus Franken, aus dem oberpfälzischen Brand, wo heute noch sein Geburtshaus steht. Kräftig und polterig, bärbeißig und selbstironisch sein Naturell – aber eben auch tief empfindsam.
„Vierzehn Tag lang geheult“
… habe er 1888, als er in Bayreuth den Parsifal hört – da ist Reger gerade einmal 15 Jahre alt. Er beschließt, Musiker zu werden und lernt über seinen Klavierlehrer Adalbert Lindner den berühmten Musiktheoretiker Hugo Riemann kennen. Der erkennt die außerordentliche Begabung des Teenagers, befindet aber:
„Bayreuth ist Gift für ihn.“
Also unterweist Riemann ihn in seiner strengen Phrasierungslehre. Reger lernt, wie bei einer Sprache, sich mit der Struktur einzelner Tonfolgen zu beschäftigen, mit ihren melodischen, rhythmischen und harmonischen Schwerpunkten. Er ist fasziniert.
„Wir haben ein ganz internationales Phrasierungsbureau hier“
… schreibt er an Lindner. Auch wenn das Verhältnis zu Riemann, der ihn „Brausekopf“ nennt, nicht ungetrübt bleibt, wird Reger bis in seine letzten Werke äußerst sorgfältig die Phrasierungsbögen und Vortragszeichen mit roter Tinte einzeichnen – geradezu penibel, mit „deutscher Gründlichkeit“. Die kalligrafische Schönheit seiner Partituren, die Präzision und gute Lesbarkeit überraschen, scheinen sie doch nicht zu seinem Hang zu Exzessen zu passen, der vermuten lassen könnte, er schaffe unkontrolliert, wie im Rausch. Letzteren erlebt Reger, als er …
… im Wein „produktivmachende Kräfte sehr bedeutsamer Art“ …
… entdeckt. „Sturm- und Trankzeit“ nennt er seine Jahre von 1893 bis 1898 in Wiesbaden, wo er als Lehrer für Klavier und Orgel sein Studium am Konservatorium finanziert – mit ersten künstlerischen Erfolgen. Mittendrin absolviert er als „Einjährig Freiwilliger“ seinen Militärdienst im 80. Infanterie-Regiment: Doch der Stumpfsinn beim Kommiss ödet ihn an, er trinkt ohne Halt. Depressionen und Schulden nehmen zu – nur knapp entgeht er einer Einweisung ins Heim, als ihn seine Schwester Emma ins Elternhaus zurückholt. Zeitlebens wird Reger eine „durstige Seele“ bleiben, doch er erkennt auch:
„Im Dusel komponiert niemand, auch das Genie nicht.“
Vielleicht hat die Freundschaft mit Ferruccio Busoni zu dieser Erkenntnis beigetragen, vielleicht die Bekanntschaft mit Elsa von Beerken, der drei Jahre älteren, geschiedenen Adeligen, um die er jahrelang wirbt. Sie wird ihn – trotz eines Straußes von zehn Liebesliedern – erst 1902 in München heiraten, nachdem Reger seine Schulden getilgt und Abstinenz gelobt hat. Doch nur wenige Jahre später bekommt die Ehe erste Risse, reale und vermeintliche Rückschläge lassen ihn wieder trinken. Der Alkohol verwandelt ihn in einen beleibten Riesen, der sich gerne „Rex Mager“ nennt und die Karikaturisten reizt. Trotz einflussreicher Förderer wie Richard Strauss gilt vielen seine Musik als verschroben, langatmig, aufgedunsen, verbissen, düster, gar pathologisch: eine „ton- und klangpsychologische Perversität“ schreibt Rezensent Rudolf Louis 1903. Das Wort …
„Strafkammermusik“
… macht die Runde, als das gut eingespielte Hösl-Quartett bei der Uraufführung von Regers c-Moll-Klavierquintett 1903 in München an der komplexen Struktur, der permanenten Anspannung zu scheitern droht. Sein Groll auf die Münchner Kritiker wird sprichwörtlich:
„An alle die Herren Kritiker mit ›oktoberfestwiesenreifer‹ Intelligenz“
… schreibt er und droht: „Reger ist ein grundgemütliches Luderchen. Ist er aber gereizt, dann ist er ein verfluchter Satan!“ Und: „Ich werde in Zukunft per Gelegenheit jeden rausholen und bengalisch beleuchten!“ Seine Violinsonate C-Dur op. 72 versteht er als Kampfansage an die Kritik, nennt sie „Schafe- und Affen-Sonate“ – basierend auf den Motiven Es-C-H-A-F-E und A-F-F-E – und „widmet“ sie zwei Rezensenten. Legendär wird sein Spruch: „Ich sitze im kleinsten Raum des Hauses. Ich habe Ihre Kritik vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben.“ In Leipzig indes, wo er 1907 zum Universitätsmusikdirektor ernannt wird, scheint auf einmal alles ganz anders:
„Man ist hier toll auf Reger!“
… hatte er schon 1904 nach einem dortigen Konzert an Elsa geschrieben. Als er seine neue Wohnung in der Leipziger Felixstraße bezieht, wird dem selbsternannten „knorrigen deutschen Musikante mit Rückgrat“ gar ein großer Empfang bereitet. Eine Ehrengabe über 10 000 Mark von Henri Hinrichsen, Inhaber des C. F. Peters-Verlags, ermöglicht ihm endlich, „Herzblutwerke“ zu schaffen, ohne sich durch ständiges Konzertieren aufzureiben. Elsa hingegen wird 1929 in ihren Erinnerungen über den „Leipziger Frühjahrsgeruch nach Bärlauch“ klagen – und kränkelt. Wenig schmeichelhaft hatte ihr Gatte sie in einem früheren Brief mit einer Figur aus einem Ibsen-Drama verglichen – nicht ahnend, dass sie ihn 35 Jahre überleben und die Hüterin seines Erbes sein wird.
Das Schreckhorn
Als Lehrer am Leipziger Konservatorium malt Reger, die linke Hand gewöhnlich in der Hosentasche, die tollsten harmonischen Probleme an die Tafel. Den Schülern sträuben sich die Haare, auch wegen der Noten, die Reger vergibt. „Bekommt den ersten Preis für Faulheit“, heißt es da, oder: „Gut beanlagt, grandios im Bummeln.“ Und über den später berühmten Dirigenten George Szell lautet sein Urteil: „War sehr faul, nachlässig, hat sich den Ehrennamen ‚Das Schreckhorn‘ erworben. Ist sehr begabt.“ Dennoch ist Reger als Lehrer begehrt, erhält schon 1908 die Ehrendoktorwürde der Universität Jena – nur eine von vielen Auszeichnungen. Was ihn nicht davon abhält …
„Orden für eine Verunreinigung von Knopflöchern“
… zu halten: Will er seine Sucht nach Anerkennung verbergen? Den Willen, sein Werk durchzusetzen? Denn die wilhelminische Leistungsethik hat er tief verinnerlicht und wünscht sich, der Tag hätte 72 Stunden. Als …
„Akkordarbeiter“
… trägt er sich in Hotel-Gästelisten ein: in Anspielung auf seine eigenwillige Akkordik und Harmonik sowie den Umstand, dass er wie am Fließband zu produzieren scheint – in 43 Jahren entstehen über 1 000 Werke. Zwar keine Oper und keine vollendete Sinfonie, dafür aber eine Reihe glänzend klingender Orchesterstücke, prächtige Kammermusik mit Quartetten, Trios sowie vielen Sonaten für verschiedene Instrumente; ein Violinkonzert, von dem er glaubt, „die Reihe der zwei Konzerte Beethoven, Brahms um eines vermehrt“ zu haben, zudem Klavier- und Vokalmusik – und ein imposantes Orgelschaffen mit kühnen Choralfantasien. Einen …
„Fugen-Seppel“
… nennt er sich, der an einem einzigen Tag eine gewaltige Doppelfuge ohne Fehler komponieren kann. Johann Sebastian Bach hält er „für Anfang und Ende der Musik“ – und doch sind die Mozart-Variationen von 1914 wohl sein populärstes Orchesterwerk. Er widmet sie der Meininger Hofkapelle, an die er 1911 von Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen als Hofkapellmeister berufen wird. Am Ende einer kompositorisch sehr fruchtbaren Zeit mit Orchesterwerken wie den Vier Tonbildern nach A. Böcklin steht 1915 der psychische Zusammenbruch. Das Requiem vermag er nicht mehr zu vollenden. In der Gelehrtenstadt Jena findet er zwar zunächst aus der Krise heraus und „zum freien jenaischen Stil“, wie er seinem Freund schreibt, dem Organisten Karl Straube. Doch er ahnt, dass sein Ende naht.
„Das Schwein und der Künstler werden erst nach ihrem Tode geschätzt“
… ulkt er – wie immer nur halb im Scherz. „Einer Musikgeschichte in 50 Jahren“, hat er getönt, „wird es klar sein, dass ich der einzige war, der sich gegen die ,Versumpfung‘ im Lisztschen ungesunden Fahrwasser entgegenstemmte, der als bewußter Fortschrittler ,sans phrase‘ den Strom wieder in das Bett: Bach, Beethoven, Brahms geleitet hat.“ Doch die Korrekturbogen seiner Acht geistlichen Gesänge op. 138 in seinem Sterbezimmer im Leipziger Hotel Hentschel sprechen eine andere Sprache: „Der Mensch lebt und besteht nur eine kleine Zeit.“
P.M.: In der bayerischen Landeshauptstadt wolle er nicht „noch einmal“ begraben werden, hatte der Komponist einst gesagt. Seine letzte Ruhe findet Max Reger nach Stationen in Jena und Weimar nun auf dem Waldfriedhof – in München.