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Digitalisierung: Klassik in Zeiten von Corona

Pantoffeln unterm Flügel

Wie sich die Klassik in Corona-Zeiten digitalisiert und an Sympathie gewinnt.

vonJakob Buhre,

Die Absage von Großveranstaltungen hat viele Musiker kalt erwischt und ist auch für so manchen Zuschauer hart, etwa wenn die lang ersehnte Karte für Bayreuth nicht zu einem Opernbesuch in diesem Jahr führt. Doch zumindest das Publikum wird in diesen Tagen entschädigt – weil leidenschaftliche Musiker eben nicht einfach aufhören zu spielen. Und je länger die Corona-Auszeit dauert, desto mehr Künstler schalten die Kamera ein und lassen ihre Fans live teilhaben.

So entstand in den letzten Wochen eine Unmenge von Video-Aufnahmen: Solisten in leeren Konzertsälen, Dirigenten im Wohnzimmer, Opern ohne Publikum und diverse fürs Netz arrangierte Hauskonzerte. Zusätzlich legen Orchester und Spielstätten Video-Schätze aus der Vergangenheit frei, hunderte von Stunden Material – das Angebot ist vielfältig und so groß, dass man selbst bei einem Shutdown bis Weihnachten noch nicht alles gesehen hat.

Nich immer ein Hörgenuss

Freilich führt nicht jeder Corona-Stream automatisch zu Hörgenuss. Wenn etwa Orchestermusiker im Homeoffice, mit den Kollegen auf dem Bildschirm vereint, Beethovens „Ode an die Freude“ aufführen, ist der symbolische Wert weitaus höher als der musikalische. Auch hat nicht jeder klassische Musiker sofort ein paar gute Mikrofone parat. Selbst die populären Twitter-Konzerte von Igor Levit klingen bisweilen nach schlechtem UKW-Empfang, anderswo fällt die Verbindung ganz aus: Als der Cellist Julian Steckel Anfang April live vom Wohnzimmer aus musizierte, bekamen ihn die Youtube-Zuschauer erst zu sehen, als er mit seiner Bach-Suite schon fast fertig war.

Der Aufwand für einen guten Internetauftritt ist nicht zu unterschätzen – und wurde von vielen Klassikmachern bislang gescheut. Elf Jahre nach ihrer Gründung ist die „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker als orchestereigene Video-Plattform in Deutschland nach wie vor ein Unikum. Einige Ensembles sind inzwischen bei kostenpflichtigen Streaming-Anbietern wie takt1.de oder medici.tv präsent, doch auf Ebene der Solisten und Kammermusiker fehlt es vielerorts an Technik und Erfahrung, um in Corona-Zeiten virtuelle Auftritte zu absolvieren.

Versuchsmodell: Online-Eintrittskarten

Eine Lücke, mit der sich der Geiger Aleksey Igudesman beschäftigt. Gemeinsam mit dem Karajan-Institut und seinem Startup Music Traveler arbeitet er an dem Web-Projekt „Music From Home“, das es klassischen Musikern ermöglichen soll, bezahlte Online-Konzerte zu geben. „Im Moment weiß niemand, wann Veranstaltungen wieder stattfinden und wann Musiker wieder reisen können. Deswegen ist es wichtig, dass sie eine Plattform haben, die ihnen als zusätzliche Einnahmequelle dient.“ Freiwillige Spenden an Musiker seien gut und hilfreich, es sei aber auch wichtig, im Netz ein Eintritts-Modell zu verwirklichen. „Ich habe immer Schwierigkeiten damit gehabt, für eine Aufführung um Almosen zu betteln, denn als Musiker gibst du sehr viel, an Energie und Emotionen. Da ist eine Eintrittskarte eine wichtige Wertschätzung, selbst wenn sie im Netz nur wenige Euro kosten wird.“

Er hoffe auf einen Prototyp in den nächsten Wochen, sagt Igudesman. Und generell ist damit zu rechnen, dass die Corona-Krise, wie in vielen anderen Branchen auch, in der Klassik zu einem Digitalisierungsschub führt. „Im Gegensatz zum Pop ist die Klassikwelt noch sehr analog“, erklärt Schlagzeuger Alexej Gerassimez. „Da werden sich jetzt vermutlich einige Musiker ein gutes Mikrofon besorgen.“

Klassik im Zeitalter der Digitalisierung

Tatsächlich ist das Streaming-Angebot im Pop-Bereich ungleich größer und oft professioneller gestaltet, was mitunter daran liegt, dass U-Musik selten staatlich subventioniert wird und die Musiker sich ungleich mehr um die Selbstvermarktung kümmern müssen. So ist das Repertoire der Pop-Formate im Netz heute schon sehr vielfältig, Konzerte werden vom Dach oder aus einer Redaktionsstube gestreamt, DJs legen auf dem Eiffelturm auf oder gar auf einem Felsvorsprung.

Wie innovativ sich die Klassik digitalisiert, wird sich zeigen. Dass sie mit einer Netz-Offensive an Sympathie gewinnen kann, lässt sich aber schon jetzt feststellen. Zum Beispiel wenn man im Hauskonzert-Stream sieht, wie Igor Levit seine Pantoffeln unterm Flügel parkt, oder hört, dass das Privatinstrument des großen Evgeny Kissin, nun ja, leicht verstimmt ist.

Zu den schönsten Initiativen gehören dabei die Videos zahlreicher Ensemble-Mitglieder von Staatskapelle Dresden bis New York Philharmonic, die nun mit Solo-Darbietungen ganz vorne auf der virtuellen Bühne erscheinen. Spätestens jetzt dürften auch junge Internetnutzer erkennen, dass Orchestermusiker keine Pinguine, aber mindestens genauso sympathisch sind. Und sei es, weil im Hintergrund das gleiche Ikea-Regal zu sehen ist, wie es beim Zuhörer zu Hause steht.

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