Kuriositäten gibt es in der Welt der Musikinstrumente viele. Sei es die von Benjamin Franklin 1761 entwickelte Glasharmonika, der knapp ein Jahrhundert später erfundene, dreieinhalb Meter hohe Octobass oder das berührungslos zu spielende Theremin, das 1920 die Ära der elektronischen Klangerzeugung einleitete. All diese Instrumente sind Exoten im Konzertbetrieb, weil sie mit der Absicht konzipiert wurden, mit ihrem sehr speziellen Klang einem besonderen Kompositionsstil zu genügen. Insofern passt das kurios anmutende Duplex Coupler Grand Piano nicht in diese Reihe, denn sein Erfinder Emanuel Moór kreierte ein Instrument für den täglichen Konzertbetrieb. Trotzdem ist der Doppelmanualflügel, der vor knapp hundert Jahren von den größten Klaviermanufakturen gebaut und in den bedeutendsten Konzertsälen gespielt wurde, heute nahezu unbekannt. Das möchte David Stromberg ändern. Aber was treibt den Hamburger Cellisten an, sich mit großem persönlichem Engagement für ein Instrument einzusetzen, das er selbst allenfalls privat spielen würde?
„Der Münchner Cellist Sebastian Hess und ich wollten zusammenarbeiten“, erzählt Stromberg. „Auf der Suche nach Werken für zwei Celli und Orchester fanden wir ein Doppelkonzert von Emanuel Moór. Wir waren fasziniert vom Ausdrucksreichtum, von der Melodik und Harmonik seiner Musik, hatten aber bis dahin noch nichts von diesem Komponisten gehört.“ In Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk und mit Unterstützung der „Henrik und Emanuel Moor Stiftung“ spielten die beiden Cellisten zusammen mit den Nürnberger Symphonikern 2019 eine CD ein. Doch damit war das Kapitel Moór für Stromberg noch nicht abgeschlossen. Die Beschäftigung mit dessen Biografie ergab, dass der 1863 in Kecskemét im heutigen Ungarn geborene Komponist und Pianist, dessen Bruder Henrik Kunstmaler war, mehr als zweihundert Opera hinterlassen hat und mit seinen Sinfonien, Solokonzerten, Opern, Liedern, Kammermusik- und Chorwerken sämtliche Gattungen bediente. Pablo Casals bezeichnete Moór als „Genie“ und trat mit dessen Cellokonzerten ebenso auf wie die gefeierten Solisten Alfred Cortot, Eugène Ysaÿe und Henri Marteau. Auch das Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter Willem Mengelberg hatten Moórs Werke im Programm.
„Er hatte die Vision, das Klavier der Zukunft zu bauen“
Umso überraschender ist es, dass Moór, der im Olymp der Musikwelt kräftig mitmischte, 1916 im Alter von 53 Jahren seine Komponistentätigkeit beendete und sich fortan als Erfinder bautechnischen Veränderungen von Instrumenten widmete, mit dem Ziel, dem Musiker spieltechnische Erleichterungen zu verschaffen und den Farbreichtum beziehungsweise das Volumen des Klangs zu steigern. Er entwickelte ein neues Profil und eine neue innere Konstruktion für Geige, Bratsche und Cello, vor allem aber beschäftigte er sich mit der Konstruktion eines neuartigen Konzertflügels, berichtet Stromberg. „Er hatte die Vision, das Klavier der Zukunft zu bauen, und das Gefühl, dass das Klavier mit nur einer Tastatur limitiert ist. Moór war auch Organist, somit war ihm das Spiel auf unterschiedlichen Manualen vertraut. Besonderes Merkmal seines Duplex Coupler Grand Piano ist das Pedal, mit dem man auf dem unteren Manual jeden Ton durch Oktavierungen verdoppeln kann. So kommt es zu enormer Klangfülle. Man kann eine Hauptstimme auf dem unteren Manual verdoppeln und damit im Klang anreichern und zugleich eine Nebenstimme auf dem oberen Manual spielen, die dann unverdoppelt erklingt.“ Außerdem erhöhte Moór das Ende der weißen Tasten, so dass sie auf einer Ebene mit den schwarzen liegen, wodurch chromatische Glissandi möglich werden.
Als Verehrer maximaler Klangfülle war Emanuel Moór durchaus ein Kind seiner romantischen Zeit. Zugleich wollte er aber auch ein Instrument entwickeln, auf dem sich für zweimanualiges Cembalo notierte Barockstücke wie Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ leichter spielen lassen. Er hatte nur ein Problem: Keine Klaviermanufaktur wollte sich auf das Wagnis einlassen, einen noch unerprobten neuen Instrumententypus herzustellen. Also heuerte der ehrgeizige Erfinder zwei Schreiner an, ließ ein Klavier zersägen und einen Prototyp anfertigen, mit dem er die Schweizer Firma Schmidt-Flohr als Produktionspartner gewinnen konnte. Schon bald zogen Weltmarken wie Bechstein, Bösendorfer, Steinway und Pleyel nach und stellten ebenfalls das „Duplex“ her. So entstanden ab Mitte der zwanziger Jahre in kurzer Zeit weltweit rund siebzig Instrumente. Über den damaligen Siegeszug des Doppelmanualflügels wundert Stromberg sich nicht: „Die Zeit war an ihr Limit gekommen. Man hat exzessiv gelebt und wollte Grenzen sprengen – das alles steckt in diesem Flügel. In ihm manifestiert sich die Idee, mit einem Instrument ein ganzes Orchester zu imitieren. Das ist atemberaubend!“
Verdankte Moór seine Freiheit als Künstler und Erfinder auch den finanziellen Mitteln seiner vermögenden Gattin Anita, der Tochter eines amerikanischen Spirituosen-Importeurs, mit der er acht Jahre lang in Schweizer Luxushotels lebte, so war es später seine zweite Ehefrau, die Pianistin Winifred Christie, die sich zur Anwältin des Duplex-Pianos machte, mit dem sie weltweit auftrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergab sie zudem Stipendien an Komponisten, die Werke speziell für dieses Instrument schrieben. Doch so sehr die Musikwelt sich zu Beginn der dreißiger Jahre für das Duplex-Piano begeisterte, ist es heutzutage nahezu unmöglich, einen spielbaren zweimanualigen Flügel aufzutreiben, betont Stromberg. „Ich begann zu recherchieren und bin jeder Spur nachgegangen, habe Briefe nach England, Belgien und Italien geschrieben und Kontakte nach Amerika aufgenommen. Ich fand auch einige Instrumente, die wir aber nicht nutzen konnten, weil sie als museal gelten und nicht aufgearbeitet werden durften.“
Warum geriet das Duplex Coupler Grand Piano so lange in Vergessenheit?
Ein zielführender Hinweis ergab sich schließlich vor Ort in Hamburg mit einer Anfrage beim Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G). Andreas Beurmann, der Mitbegründer des Hörspielverlags „Europa“, und seine Frau Heikedine, die im Jahr 2000 dem Museum ihre Sammlung historischer Tasteninstrumente überließen, sollten ein Duplex-Piano besessen haben. Stromberg nahm Kontakt zu Heikedine Körting-Beurmann auf und wurde fündig. Sie erklärte sich sofort bereit, das seltene Instrument aus dem Hause Bösendorfer, das in ihrem Wohnsitz auf Gut Hasselburg stand, für ein umfangreiches musikalisches Projekt zur Verfügung zu stellen, für das Stromberg den Pianisten Florian Uhlig mit ins Boot holen konnte. Nach einer ersten öffentlichen Erprobung des Instruments beim Schönberger Musiksommer entstand mit dem Produktionspartner Deutschlandradio im Hamburger Rolf-Liebermann-Studio des NDR eine CD-Aufnahme mit Werken von Emanuel Moór, Ernst von Dohnányi und Richard Strauss, die im Herbst erscheinen soll. Zudem wird es eine vierteilige Konzertreihe geben in Duo-, Trio- und Quartettbesetzung mit drei Terminen im MK&G (30.3., 24.4. und 25.5.) und einem Termin im Kleinen Saal der Elbphilharmonie (28.9.). Hier konnte Stromberg die Geigerinnen Mirijam Contzen, Sayako Kusaka und Sophia Jaffé sowie den Bratscher Hartmut Rohde als Kammermusikpartner gewinnen. Außerdem wird der Flügel schon jetzt in der Instrumentensammlung des MK&G ausgestellt. Die nächste Station ist ein Gastkonzert in Erlangen, wo zur Eröffnung des neuen Siemens-Auditoriums Moórs Tripelkonzert mit dem Duplex-Flügel erklingen soll. Schließlich war Moór auch für die Firma Siemens tätig und an der frühen Entwicklung eines elektronischen Klaviers beteiligt.
Bei diesem erneut aufflammenden Interesse an Moórs Doppelmanualflügel stellt sich die Frage: Warum gerieten sein Instrument und seine Musik so lange in Vergessenheit? Stromberg gibt zwei mögliche Erklärungen: „In der Zeit vor Moórs Tod 1931 hatte der Flügel seine Blütephase, aber er war das Werk eines Juden. Der Antisemitismus hat wohl auch seine weitere Verbreitung verhindert. Nach dem Krieg wollte man eine neue Weltordnung schaffen und nicht zurückschauen. Man hat mit Bauhaus und der Neuen Sachlichkeit ein anderes Stilempfinden entwickelt, das mit dem Duplex-Klavier nicht vereinbar war.“ Es gibt berechtigte Hoffnung, dass man heute, im Zeitalter des Stilpluralismus, bereit ist, Emanuel Moór und seinem Duplex Coupler Grand Piano wieder ein Ohr zu schenken.