Paukenschläge, F–G–C–C, ein strenger Rhythmus, trocken, schroff, brutal! Punktierte Noten, Achtelpausen, die kaum zu erahnen sind, dann peng, peng, peng, peng – vier Sechzehntel. Oder dieser Takt hier […]: Auf der Vier abrupt ein Röcheln, ein furchtbarer Schrei, durch nichts auszudrücken. Ein riesiges Geschütz beginnt zu feuern und dämpft damit alle anderen Geräusche. Das Geschoss fliegt brüllend los, verliert sich in der Weite des Himmels …“
Als der junge Pariser Cellist Maurice Maréchal zum ersten Mal die reale „Schlachtsinfonie“ des Ersten Weltkriegs hört, versucht er, Ordnung in die Kakophonie des Grauens zu bringen, indem er sie sich als Partitur ausmalt. Doch es übersteigt seine Vorstellungskraft, nach diesen Noten ein Konzert zu spielen: „Welche barbarischen Instrumente könnten das wiedergeben?“ notiert er in sein Front-Tagebuch.
Denkbar ungeeignet dafür ist sein „Violoncelle de guerre“, das zwei Kameraden, im Zivilleben Schreiner, dem ohne Instrument eingerückten Musiker 1915 aus Munitionskisten und den Resten einer Eichentür bauen. „Le Poilu“ – „Der Frontsoldat“, wie er das „Kriegscello“ tauft, „hat den Klang einer Gambe. Man darf es nicht zwingen, muss es sanft spielen, sonst bricht sein Klang.“
Bei Truppenverlegungen wird es im Versorgungswagen transportiert und ermöglicht Maurice Maréchal während des ganzen Krieges kostbare Kurzfluchten in die Zivilisation: Einquartierungen bei Musikfreunden im Hinterland mit Waschgelegenheit und Übernachtungen in einem „guten Bett“, aber auch Trio-Auftritte im Stabsquartier. Gemeinsam mit seinem Besitzer übersteht „Le Poilu“ unbeschadet den Krieg.
Musikalische Enkelin: Emmanuelle Bertrand und das Kriegscello „Le Poilu“
Rund 100 Jahre später erzählt die Cellistin Emmanuelle Bertrand: „Maréchal wurde ein berühmter Solist und war Lehrer eines meiner Professoren am Conservatoire. Er ist sozusagen mein musikalischer Großvater.“ Sein Kriegscello, von dem er sagte, es sei für ihn „kostbar wie eine Stradivari“, entdeckte sie bei Forschungen im Magazin des Pariser Musée de la Musique: „Es ist aus vergleichsweise dickem Holz und ziemlich schwer, aber inzwischen zu fragil für Saiten.“ Doch die Idee, den Original-Celloklang aus den Schützengräben wieder hörbar zu machen, ließ sie nicht los, und so hat ihr der Geigenbauer Jean-Louis Prochasson 2011 eine exakte Kopie geschaffen.
Emmanuelle Bertrand beugt sich über den kleinen kastenartigen Korpus, der an Instrumente auf kubistischen Gemälden erinnert, und spielt ein paar Takte aus einer Solo-Suite von Bach: Es klingt rau, leicht reduziert, aber überraschenderweise nicht nach jener Notlösung, nach der es aussieht. Gemeinsam mit Schauspielern, die aus Maréchals Kriegstagebüchern und Briefen an die Familie lesen, tritt sie so regelmäßig in Frankreich auf. Ihr stiller Wunsch: „Dass irgendwann ein deutsches Pendant zum ‚Poilu‘ gefunden wird und wir diese Instrumente gemeinsam spielen können – in beiden Ländern.“
In Frankreich wurde der „Grande Guerre“ zum positiven Gründungsmythos
Die französische Selbstverständlichkeit des Gedenkens an den jenseits des Rheins nur „Grande Guerre“ genannten Ersten Weltkrieg fehlt in Deutschland aus historischen Gründen: Anders als hierzulande ging der Staat in Frankreich gestärkt aus dem Krieg hervor und etablierte früh offizielle Gedenkrituale. Der „Große Krieg“ sei dort schnell zu einem Gründungsmythos geworden, schreibt die Historikerin Élise Julien in ihrem Aufsatz „Asymmetrie der Erinnerungskulturen“. In Deutschland indes liegt der Fokus der Erinnerung nach wie vor auf dem Dritten Reich, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust.
Die Mundharmonika als Instrument im Schützengraben
Während in Frankreich eine umfangreiche staatliche Initiative namens „Mission Centenaire 14-18“ kulturelle Projekte wie das von Bertrand fördert und systematisch der Öffentlichkeit vorstellt, stößt man in Deutschland eher zufällig auf eine originelle Ausstellung wie „Lebensretter und Seelentröster. Die Harmonika und der Erste Weltkrieg“ des Deutschen Harmonikamuseums. Dort wird ein bislang weitgehend unbekannter und wenig beachteter Teil der Musik- und Sozialgeschichte präsentiert: „Nach Kriegsausbruch warf jeder namhafte Hersteller ,Mundharfen‘ mit Bezug auf das aktuelle Geschehen auf den Markt. Hohner-Modelle wie etwa ,Hurra‘ oder ,Deutscher Siegeslauf‘ sollten den Zeitgeist spiegeln.“
Die vergessenen Kriegskomponisten
Dagegen beschränken sich die Aktivitäten der „Mission Centenaire“ keineswegs allein auf Frankreich: So hat die französische Initiative etwa auch das Programm „Die Zeiten des Krieges“ des Berliner Duos Judith Ingolfsson (Violine) und Vladimir Stoupel (Klavier) ausgezeichnet, von dem Deutschlandradio Kultur inzwischen auch eine Aufnahme produziert hat. Ihnen sei wichtig, erklärt Stoupel, mit Konzertprogrammen „immer eine Geschichte zu erzählen“. Geschichten, die dem Großteil des Publikums noch unbekannt sind wie jene der Komponisten Rudi Stephan, Albéric Magnard oder Louis Vierne, deren Schicksale auf tragische Weise mit dem Ersten Weltkrieg verknüpft sind. Was indes nicht bei jedem ankommt: „Von Veranstaltern werden wir immer wieder gefragt, ob wir dieses Programm nicht mit Kompositionen mischen wollen, die im vermeintlich so heiteren Berlin der 20er Jahre entstanden sind“, erzählt Stoupel.
Dass diese Stücke der Zwischenkriegszeit ebenfalls Spuren der grausamen Schlachten zwischen 1914 und 1918 tragen, wird dabei oft übersehen: Erwin Schulhoffs 3. Suite für Klavier linke Hand etwa, die der im Krieg selbst verletzte Komponist 1926 für den befreundeten Pianisten Otakar Hollmann schrieb – denn wie seinem berühmteren Kollegen Paul Wittgenstein war auch Hollmann der verletzte rechte Arm amputiert worden. Für viele war der Erste Weltkrieg auch nach 1918 eben noch längst nicht vorbei.
Hintergrund: Komponieren im Ersten Weltkrieg
Wie Cellist Maurice Maréchal beschrieben viele Soldaten in Tagebüchern und Briefen den unerträglichen Lärm der neuartigen Kampfmaschinerie. Ist deren Echo folglich auch in den Kompositionen jener Epoche zu vernehmen? Nein, sagt Stefan Hanheide, Musikwissenschaftler an der Universität Osnabrück, der sein Augenmerk auf Musik und Gewalt gerichtet hat: „Die Forschung hat gezeigt, dass der Erste Weltkrieg in zeitgenössischen Werken auf andere Weise präsent ist, als wir erwarten. Sie zitieren kein Granatfeuer, sondern Hymnen, Lieder und Choräle mit nationalem Bezug.“
Damit bekannten sich die mehrheitlich kriegsbegeisterten Komponisten und Verleger zum Vaterland. Und da derartige Werke stark nachgefragt wurden, war diese Haltung natürlich auch lukrativ: „Die Zahl der patriotischen Neuerscheinungen blieb bis 1916 sehr hoch“, bilanziert Hanheide. Der ausgeprägten Gesangskultur der Zeit entsprechend druckte man insbesondere Lieder, die auch in den Schützengräben angestimmt wurden – begleitet vom „wichtigsten Instrument der Front“: der Mundharmonika.