Sommerzeit – Festivalzeit. Für viele Liebhaber klassischer Musik die schönste Zeit im Jahr. Denn jetzt lässt sich das Angenehme mit dem Angenehmen verbinden: Internationale Klangkörper und Künstler bevölkern nicht nur die Hauptstädte oder Ballungszentren, sondern ziehen im Rahmen akribisch geplanter Veranstaltungsreihen aufs Land. Ob Scheune, Fabrikhalle, Schloss oder Open Air – endlich kann man die musikalischen Hochkaräter in idyllischem Umfeld hören, sich durch die Wälder und Auen des Rheingau treiben lassen, Bootstouren auf der Mecklenburgischen Seenplatte unternehmen oder von Gut zu Gut durch Schleswig-Holstein reisen. Die Musik ist immer schon da und macht den Entspannungs- zum Kultururlaub.
Damit Festivalgäste aus aller Welt jedoch ihren Aufenthalt auch wirklich rundum genießen können, fließt viel Planung in derartige Vorhaben. Während mancherorts Künstler erst einmal zwei Stunden über gepflasterte Landstraßen holpern müssen und sich die Frage aufdrängt, ob der Fahrer auch wirklich weiß, wo dieses Schloss sich befindet, in dem man am Abend auftreten soll, stellt nicht vorhandene Bestuhlung, Stromversorgung oder fehlende Sanitärausstattung andernorts die Veranstalter vor Herausforderungen. Zwei bis vier Jahre im Voraus wird hier geplant, werden Künstler angefragt, Konzerttermine geschoben, Spielstätten bestätigt und wieder verworfen, werden Personalplanungen vorgenommen, Budgets verwaltet, Sponsoren akquiriert.
In Konkurrenz mit der Fußball-WM
Als wäre dies noch nicht Aufwand genug, sehen sich Konzertveranstalter alle vier Jahre mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert: Die komplizierte Saisonplanung einer Weltmeisterschaft des wohl beliebtesten Mannschaftssports, kurz, dem Fußball zu unterwerfen. Doch wie stark ist der Einfluss einer Fußball-WM tatsächlich? Einer, der es wissen muss, ist Prof. Dr. Sebastian Nordmann, seines Zeichens amtierender Intendant des Konzerthauses Berlin sowie ehemaliger Intendant der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Er kennt die Klassikwelt wie seine Westentasche und erinnert sich im Gespräch an die Zeit in „MeckPomm“: „Die Festspiele standen 2006 mit der Weltmeisterschaft in absoluter Konkurrenz. Das war Wahnsinn. Teilweise kam das Publikum nicht, die Abendkasse fiel regelrecht aus.“
Und er fährt fort: „Fragen kamen auf wie: Bauen wir eine Leinwand zum Public Viewing auf? Verschieben wir das Konzert um zwei Stunden nach hinten? Ich erinnere mich noch an Redefin: Wir hatten 3.000 Gäste vor Ort und Deutschland spielte gegen Schweden. Der Funkhausdirektor saß mit Knopf im Ohr und gab die Ergebnisse während der ersten Hälfte live an seine Sitznachbarn durch. Bei Toren gab es ein regelrechtes Raunen, so dass selbst die Musiker erstaunt aufblickten. Gäste standen in Trauben um den Minifernseher eines Caterers herum, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen – und saßen nach der Pause dann doch wieder alle auf ihren Plätzen.“
Friedliche Koexistenz
Berlin sei in Nordmanns Augen ein ganz anderes Pflaster: In der Hauptstadt mit fast vier Millionen Einwohnern existieren Ball- und Kulturverrückte getraulich nebeneinander. Die Gäste kämen, egal ob ein Vorrundenspiel stattfinden würde oder nicht; so sind die letzten Konzerte dieser ausgehenden Saison 2017/18 auch fast komplett ausverkauft. Doch auch in der Hauptstadt ist Planung alles: „Hier in Berlin haben wir ein Frühwarnsystem in der Programmplanung – es gibt eine große Übersicht, was wann in der Stadt los ist. Natürlich planen wir dann so gut es geht antizyklisch. Die WM hatte bei uns allerdings nur am Rande Einfluss auf die Programmplanung. Berlin hat zum Glück ein derart interessiertes Kulturpublikum, das trotz der Fußball-WM in unsere Konzerte kommt.“
Verblüffende Gemeinsamkeiten
Fast möchte man meinen, dass Nordmann kein besonders großer Fußballfan wäre, wenn man hört, wie er dem Fußball-WM-Drachen in Berlin die Zähne zu ziehen versucht. Doch selbstverständlich sieht er auch die Parallelen zwische Sportarena und Konzertsaal: „Wir haben so viel gemeinsam mit dem Fußball: Mit den Liedern, der Spannung, den 90 Minuten mit Pause – diese Parallelen sind manchmal schon fast komisch.“ Und was wäre er für ein Intendant, wenn er zum Abschied nicht noch eine Flanke im Ärmel versteckt hätte.
Rückblickend auf seine Zeit in Mecklenburg-Vorpommern kommen auch die schönen Seiten der Fußball-WM zum Vorschein: „Viele Musiker sind ballverrückt. Als Veranstalter kommt man nicht drum herum, mit diesem Umstand im wahrsten Sinne des Wortes zu „spielen”. Auf Schloss Hasenwinkel haben wir Fußballturniere – Künstler gegen Festspielteam zum Beispiel – veranstaltet, bei denen Daniel Müller-Schott die Gallionsfigur war. Daniel Hope, der ja mehrere Nationalitäten in sich vereint, konnte sich beim gemeinsamen Fußballgucken nie für eine Mannschaft entscheiden und feuerte einfach alle an.“ Besonders stolz ist Nordmann allerdings auf seine Beinahe-Begegnung mit Philipp Lahm: „Er hat mal, nachdem er mich im Rahmen eines TV-Beitrags bei einem der Teamturniere hat spielen sehen, über mich gesagt: ‚Er spielt und sieht aus wie Luca Toni… nur in Zeitlupe!‘“ Und Nordmann hat recht: Die Parallelen zwischen Konzert und Fußballspiel sind manchmal nur allzu komisch!