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Reportage: Gstaad Menuhin Festival

Wo der Boden noch knarzt

Das Gstaad Menuhin Festival ging aus einem Doppelkonzert von 1957 hervor. Heute ist es das drittgrößte Festival der Schweiz, gibt sich aber erfrischend geerdet.

vonJan-Hendrik Maier,

Wer mit dem Zug zum Gstaad Menuhin Festival anreist, erlebt vor allem eines: völlige Entschleunigung. Kurve um Kurve tastet sich die Bahn mit Tempo dreißig in das Saanental. Es geht vorbei an kleinen Höfen und sattgrünen Wiesen, beiderseits ragen die Berge empor, und wer sich nicht für den Panorama-Wagen entschieden hat, kann sogar noch das Fenster weit öffnen. Nach einer halben Stunde garantiert die Einfahrt über eine Hochbrücke nach Gstaad die erste Bilderbuch-Ansicht auf den Ort mit seinen im Chalet-Stil errichteten Häusern und dem hervorstechenden weißen Festival-Zelt.

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Das idyllische Bergdorf, das augenscheinlich auch äußerst vermögende Urlauber frequentieren, zieht zwischen Juli und September zahlreiche Klassikliebhaber an. Etwa 27 500 Gäste, überwiegend aus Deutschland, England, Frankreich und der Schweiz, zählte das Festival im vergangenen Jahr. Damit reiht es sich im landesweiten Vergleich hinter jenen in Luzern und Verbier ein.

Stille Lieder in Begleitung eines Gewitters

Einst vom legendären Geiger Yehudi Menuhin ins Leben gerufen, hat das Festival seit den Nullerjahren unter Intendant Christoph Müller seine Besucherzahlen verdoppelt und sich auch inhaltlich verändert: weg von einem kammermusikalisch fokussierten und bisweilen als „Champagner-Festival“ wahrgenommenen Konzertreigen hin zu einer „sommerlichen Plattform für Klassik“, so Müller. Das vielseitige Programm gibt ihm recht. Intime Recitals weltbekannter Künstler in den kleinen Kirchen der Region haben zwar nach wie vor ihren unumstößlichen Platz. Den angenehm holzigen Geruch in der Luft, das sanfte Knarzen des Bodens und die große räumliche Nähe zu den Musikern an diesen Orten kann man nicht ersetzen. Wenn Konstantin Krimmel und Hélène Grimaud in der Kirche von Zweisimmen Valentin Silvestrovs „Silent Songs“ aufführen und sich plötzlich ein Gewitter als weitere Klang­ebene aufdrängt, ist das ein einzigartiges Konzerterlebnis. Doch genauso zählen die Auftritte großer Orchester und konzertante Opern vor 2 000 Menschen im Festival-Zelt und genreübergreifende Veranstaltungen zu jeder Saison.

Die Gewinner des diesjährigen Neeme-Järvi-Preises (v.l.: Omer Ein Zvi, Alizé Léhon, Gabriel Pernet), umrahmt von Johannes Schlaefli und Christoph Müller
Die Gewinner des diesjährigen Neeme-Järvi-Preises (v.l.: Omer Ein Zvi, Alizé Léhon, Gabriel Pernet), umrahmt von Johannes Schlaefli und Christoph Müller

Darüber hinaus wurde die Nachwuchsförderung breit aufgestellt: Kinder aus der Region wirken jedes Jahr an einem großen Bühnenprojekt mit. Laienmusiker jeden Alters wiederum erarbeiten mit Orchesterprofis ein anspruchsvolles Werk. Die Kernelemente der Zukunftsarbeit sind indes die Akademien für den professionell ausgebildeten Nachwuchs, öffentliche Meisterkurse mit Granden der Klassikwelt wie Cecilia Bartoli, Sir András Schiff und Ana Chumachenco. Zum internationalen Aushängeschild wurde dabei die 2014 gegründete „Conducting Academy“.

Jährlich bewerben sich Hunderte junge Dirigenten aus über fünfzig Ländern auf einen der zehn Plätze. Zwei Wochen lang arbeiten sie mit dem Festspielorchester zusammen, dessen Mitglieder sich aus großen schweizerischen Klangkörpern rekrutieren. Allein das ist außergewöhnlich in Europa, dauern Meisterklassen doch oft nur wenige Tage, und die Gelegenheit für Studierende, dabei ein Profiorchester zu leiten, bleibt die Ausnahme. Künstlerische und praktische Impulse vermitteln der Zürcher Dirigier-Professor Johannes Schlaefli und, seit 2017, Jaap van Zweden. Im kommenden Sommer übernimmt zudem Mirga Gražinytė-Tyla die erste Woche der Akademie.

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Ein Hauch von Hogwarts

An diesem Morgen proben die Teilnehmer Bruckners siebte Sinfonie. Acht Akademisten teilen sich das Dirigat auf. Auch wer gerade nicht unter Zwe­dens detailgenauer Beobachtung am Pult arbeitet, ist gedanklich vollends in der Musik. Manch einer schreitet gestikulierend durch das Festival-Zelt oder dirigiert vom Platz aus mit, andere folgen dem Geschehen Note für Note in der Partitur oder bereiten sich mit dem Taktstock in der Hand auf ihren Abschnitt vor – ein Hauch von Hogwarts in Gstaad. Humorvoll und direkt in der Kommunikation feilt Zweden mit den Teilnehmern an ihrer Interpretation, greift beherzt ein, wenn die Körperhaltung am Pult nicht optimal ist, und fordert selbstbewusstes Auftreten vor dem Orchester. „Sie haben großes Talent, aber verlieren wie ein zu schneller Sportwagen-Fahrer die Kontrolle über die Musik. Das ist gefährlich. Ich möchte, dass Sie das Orchester in einen Ferrari verwandeln, den Sie sicher steuern. – Haben Sie die Flöte gehört? Sie war einen Hauch schneller als Ihre rechte Hand, das heißt, sie hat an Ihrer Stelle dirigiert. Das können Sie nicht akzeptieren.“

Der Ortskern von Gstaad ist seit 1998 autofreie Zone
Der Ortskern von Gstaad ist seit 1998 autofreie Zone

Wer von einem Orchester respektiert werden möchte, müsse von der ersten Probe an mit Kompetenz überzeugen, sagt der Chef des New York Philharmonic. Vor allem aber ermuntert Zweden zur Selbstreflexion: „Ich bin da, um Ihre Ohren zu öffnen. Wenn Sie genau hinhören, sind Sie Ihr eigener Lehrer und brauchen mich nicht.“ Im Abschlusskonzert können Gabriel Pernet, Alizé Léhon und Omer Ein Zvi die Jury des Neeme-Järvi-Preises von sich überzeugen. Dieser ist zwar nicht dotiert, beinhaltet aber mehrere Gastdirigate bei den sieben Partnerorchestern des Festivals. Auch Jasper Parrott, Mitgründer einer der weltweit größten Künstleragenturen, ließ sich das Konzert 2024 nicht entgehen.

Ende einer Intendanten-Ära

Diente bis vor der Pandemiezeit eher Heiteres und Fantasievolles als Motto für das Festival, fokussiert Christoph Müller zum Abschluss seiner 24-jährigen Intendanz auf ein ebenso vielschichtiges wie gesellschaftlich relevantes Thema: den Wandel. Nach den Aspekten von Demut und Transformation in den Vorjahren beleuchtet man in Gstaad nun die Migration. Artist in Residence Fazıl Say reist dazu passend mit seinem neuen Trio „Immigrants“ im Gepäck an, das die Erfahrungen des Exils verarbeitet. Aber auch in der Vertreibung und in der inneren Emigration entstandene Musik, Musik als gedanklicher Zufluchtsort in der Fremde, als Ausdruck von Nostalgie und Heimweh wird zu hören sein. Die Vielfalt reicht dabei von Händel über Folklore und Klassikern wie Dvořák und Schostakowitsch hin zu Uraufführungen.

Patricia Kopatchinskaja wird in ihrer Reihe „Music for the Planet“ indes einmal mehr den Blick schärfen für die Folgen des Klimawandels, der ein Grund dafür ist, dass Menschen ihre Heimat verlassen. „Ich gehe zum richtigen Zeitpunkt, weil ich das Gefühl habe, dass ich alles realisieren konnte, was ich mir vorgestellt habe“, sagt Müller. Sein Nachfolger ist in Gstaad kein Unbekannter: Als Elfjähriger blätterte er hier Noten um, mit achtzehn debütierte er als Solist, Festivalgründer Yehudi Menuhin war sein Mentor. Im November übernimmt Daniel Hope die künstlerische Leitung.

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