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Reportage Hyper-Organ von St. Nikolai

Zukunft: Orgel

Hamburg hat einen neuen Superstar: Die Hyper-Organ von St. Nikolai.

vonHelge Birkelbach,

Manchmal ruckelt es ein wenig, wenn die Zukunft abheben soll. Es war ein winziger Metallspan an einem Tonventilmagneten, der am Ostersonntag 2023 der frisch restaurierten, reorganisierten und digital erweiterten Orgel von St. Nikolai in Hamburg schräge Misstöne entlockte. „Wir nennen es einen Heuler“, sagt Philipp Klais. Der erfahrene Orgelbauer, der das weltweit renommierte Bonner Familienunternehmen Johannes Klais Orgelbau seit 1995 in vierter Generation führt, konnte den Schaden schnell beheben. „Jetzt, nach vier Jahren Bauzeit, kann sie wieder fliegen. Und wir haben ihr schöne neue Flügel verpasst.“

Der Begriff Hyper-Organ geht auf Randall Harlow zurück, der an der University of Northern Iowa als Associate Professor für Orgel und Musiktheorie lehrt. Neben der Hyper-Organ in Hamburg existieren weltweit nur sechs weitere Instrumente, die sich so bezeichnen können. Sie stehen in Amsterdam, Malmö, Ratingen, Düsseldorf, Dortmund und in Würzburg an der dortigen Hochschule für Musik. An diesen Spielstätten konnte man neben MIDI sogar bereits OSC als Schnittstelle installieren. OSC steht für Open Sound Control und ermöglicht es, sich per WLAN oder Internet mit dem Instrument zu verbinden. So können sich weitere Musiker, die irgendwo auf der Welt in einem Studio oder am heimischen Laptop sitzen, online einklinken und mitspielen. Über KI-Anwendungen wird auch nachgedacht. An der Musikhochschule in Würzburg wird gerade daran geforscht. Dort hat man kürzlich eine Professur für KI und Computergestützte Musikwissenschaft (Computational Musicology) eingerichtet.

Orgelbau als Spielwiese für Innovationstechnologien

Philipp Klais ist Handwerker alter Schule. In seinem Familienunternehmen, das seit 1882 in der Bonner Altstadt beheimatet ist, wird heute noch wie vor über 140 Jahren gearbeitet. Das Holz von Eichen und Fichten für die großen, im Querschnitt viereckigen Pfeifen lässt er traditionell im Winter in den heimischen Wäldern schlagen, unter Beachtung von Mondphase und Mondstand, wie schon seit Jahrhunderten üblich. Keine Esoterik treibt ihn dazu, sondern Erfahrung, denn in der genannten Zeitphase tragen die Stämme am wenigsten Flüssigkeit und sind besser geschützt gegen Holzwurmbefall. Als Kleber dient Leim, der aus Rinderknochen hergestellt wird. Legierungen von Zinn und Blei kommen bei den kleineren runden Pfeifen zum Einsatz. Und für die Bälge, die Lunge der Orgel, wird Leder verwendet. Wie all das zu einem großen Ganzen zusammenwächst, nämlich zu einem Unikat für einen ganz speziellen Konzert- oder Kirchenraum, ist Fachwissen, das von Generation zu Generation weitergegeben und verfeinert wird. Orgelbau war immer eine Spielwiese für Innovationstechnologien. Eine Orgel ist ein sehr komplexes Musikinstrument. Und jetzt ist sie endgültig in der digitalen Welt angekommen.

Das hat Philipp Klais wie kein anderer verstanden. Er beschäftigt 65 Mitarbeiter, die unter anderem mit dem Entwurfsprogramm CAD arbeiten, das auch bei biomorphen und statisch unmöglich erscheinenden Gebäuden von avancierten Architekturbüros genutzt wird. Der Jahresumsatz seines Unternehmens beträgt etwa sechs Millionen Euro. Innovation gehört zu seinem Tagesgeschäft, deshalb ist er unentwegt auf Reisen rund um den Globus, wo gerade Klais-Orgeln gebaut werden oder seine Expertise gefragt ist. Ob im Nationaltheater von Peking, der Kyoto Symphony Hall oder im Konzertsaal der Petronas Towers in Kuala Lumpur: Überall erklingen modernste Instrumente aus Bonner Fertigung. Auch die Orgel der Elbphilharmonie, ausgestattet mit über 4.700 Pfeifen, stammt von Klais.

Baute auch die Orgel der Elbphilharmonie: Orgelbauer Philipp Klais
Baute auch die Orgel der Elbphilharmonie: Orgelbauer Philipp Klais

Wie klingt die Hyper-Organ?

In St. Nikolai hat Klais noch einen oben draufgesetzt. Nach den kleinen Unwägbarkeiten des Eröffnungskonzerts erklingen hier fortan 7.569 Pfeifen, davon 2.215 neu installierte, verteilt auf 104 Register, mit zwölf Schlagwerkinstrumenten, alles angesteuert über fünf Manuale und den digitalen Schnittstellen. Über drei Millionen Euro hat das Meisterwerk gekostet. Schwindelerregende Zahlen. Aber wie klingt sie, die Hyper-Organ der Hauptkirche St. Nikolai? „Ganz weit vorne!“, schwärmt Tjark Pinne, Kirchenmusiker und Organist der Kirche am Klosterstern. „Der neue Spieltisch ist wie eine Kommandozentrale, an der ich neue Welten entdecken kann. Zur Linken die Register der alten Peter-Orgel, zur Rechten die neuen Register des Antiphonal- und Chorwerks, Tritte für die diversen Schlagwerkregister, Schwelltritte für die Manipulation der Windzufuhr und schließlich das schöne leuchtende Tablet.“ Man merkt dem 31-jährigen Sohn eines Pastorenehepaars an, dass er diesem Instrument nicht nur mit Ehrfurcht begegnet, sondern das Potential mit vielen neuen Ideen voll ausschöpfen möchte. „Hier kann man sich austoben und die Orgelmusik ins 21. Jahrhundert führen“, erklärt er.

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