Ein Ort „mitten im Wald“, umgeben von Bergen, wie aus dem Bilderbuch. „Rundummadum schee“ – „rundum schön“: Das ist Mittenwald, hundert Kilometer südlich von München, unmittelbar an der Grenze zu Österreich. Kleine Bachläufe führen durch den 7.500-Seelen-Ort vorbei an Häusern, deren Fassaden mit ihren farbenfrohen Szenen oft biblische Bildergeschichten erzählen. Hier flüchtet die Heilige Familie nach Ägypten, dort kämpft Sankt Georg mit dem Drachen. In Mittenwalds ältestem Ortsteil Gries löscht – in Erinnerung an die Feuersbrunst 1746 – der Heilige Florian einen Brand. Ein paar Schritte weiter schickt sich Judith an, Holofernes zu enthaupten. Ob Bauernidylle vor majestätischer Bergwelt, Schutzpatrone mit Sternenkranz oder die zwölf Apostel auf einem Wolkenkissen: Lüftlmalerei nennt man diese regionale Graffiti-Kunst des 18. Jahrhunderts, von der auch Goethe 1786 in seinem Tagebuch schwärmte. Nicht nur er weilte hier. Schließlich war Mittenwald über Jahrhunderte das Handelstor zum Süden, Umschlagplatz für Waren aus aller Welt, lag es doch an einer der ältesten römischen Handelsstraßen, der Via Claudia Augusta, die von der Dogenstadt Venedig zur Fuggerstadt Augsburg führte.
Der junge Mozart spielt auf einer Geige aus Mittenwald
So kam es wohl, dass es einen Mittenwalder Bub im zarten Alter von dreizehn Jahren nach Padua zog, um das neue Handwerk des Cremoneser Geigenbaus zu erlernen: Matthias Klotz (1653-1743), der „welt beriemte Lauten- und Geigenmacher“. 1684 kehrte er nach Mittenwald zurück, was vor allem an den heimischen Haselfichten lag, die sich bestens eignen, um Geigendecken zu fertigen. Klotz’ Söhne führten die Tradition fort. Die „Mittenwalderin“, auf der Mozart in Salzburg musizierte, baute wohl der Enkel Aegidius. Aus London schrieb Leopold Mozart 1764: „…, dass Paris und London mit Mittenwalder Geigen voll sind“. Ironie der Geschichte: Lukrativer Nebenerwerb der Geigenbauer, von denen es im 18. Jahrhundert in Mittenwald über neunzig gab, war auch das Schnitzen von Faschingsmasken und Folterinstrumenten wie etwa der spanischen Halsgeige, einer Fessel aus Holz.
Im 19. Jahrhundert wurde der Geigenbau regelrecht industrialisiert von der aufwendigen Einzelanfertigung hin zur im Akkord produzierten Massenware. Bei einem Auftrag gingen allein 24.000 Geigen nach Russland. Um dem Einhalt zu gebieten, gründete König Maximilian II. von Bayern 1858 die Mittenwalder Geigenbauschule. Matthias Klotz wurde mit einem Denkmal geehrt, ganz aus Bronze, direkt vor der Pfarrkirche. Da sitzt er mit fast fertiger Geige auf dem Oberschenkel und einem Schnitzmesser in der Hand für die letzten Feinheiten am Hals.
„Fingerspitzengefühl und ein gutes Auge“
Am Anfang, so Georg Neuner von der Geigenbauschule, steht das „Formbrett“: eine Holz-Schablone meist nach dem Vorbild einer Geige von Andrea Amati. An ihr werden die Zargen – die seitlichen planen Seitenwände eines Violinkorpus – gebogen und an die locker angebrachten sechs Klötze geleimt. Dazu muss das Zargenholz auf 1,3 mm Stärke geschabt, gehobelt und mit erhitztem Biegeeisen in Form gebracht werden, auch auf die Gefahr hin, dass es dabei leicht verbrennen oder brechen kann. Ohne „Fingerspitzengefühl und ein gutes Auge“, so Matthias Klotz, ginge es nicht, denn der kleinste Hobel ist so groß wie ein Fingerhut.
Nun verleimt, ist der Zargenkranz stabil genug, um aus dem Formbrett genommen zu werden. Decke und Boden, die Resonanzplatten der Geige, werden im „Radialschnitt“ quasi wie Tortenstücke aus dem Baumstamm geschnitten und an den hohen Seiten aneinandergeleimt. Nun kann die Form des Zargenkranzes auf das Brett übertragen und zugeschnitten werden. Nach und nach entsteht auch die Wölbung an der Außenseite, während die Innenseite ausgehöhlt wird. Zwischen 150 und 200 Arbeitsstunden vergehen, bis auch Wirbel, Griffbrett, Steg, Stimmstock, Saitenhalter und Kinnhalter angebracht sind. Dann kommt die Lackierung mit feinen Öl- und Spirituslacken. Bis zu 25 Anstriche können das sein. Per Hand. „Das Instrument soll schließlich nicht nach Plastik aussehen“, sagt Rainer W. Leonhardt, dessen Werkstatt die größte in Mittenwald ist. Entscheidend für die Qualität eines Instruments ist das Holz. Die Böden, die später beim Spielen viel Druck aushalten müssen, sind meist aus Ahorn, ebenso der Hals und die Zargen. Fichte wird für die Decke verwendet, Ebenholz für das Griffbrett.
Stippvisite beim „Geignhuiz“ des Tonholz-Händlers Hans-Peter Mannes. Riesige, hunderte Jahre alte Fichten- und Ahornstämme lagern hinter dem Haus. Fast schon liebevoll fährt er mit der Hand über das Ahornholz, das er fast ausschließlich aus Bosnien bezieht. Die Fichten kommen aus dem Bregenzer Wald und aus Südtirol. „Acht Tage vor Weihnachten soll man das Holz schlagen. Denn das ist das A und O“. Die jahrhundertealte Erkenntnis von Matthias Klotz gilt immer noch. Entscheidend ist ferner die Lagerung. Luftgetrocknet muss das Holz sein, damit dem Instrument nicht das Schicksal der Geigenskulptur in Gries widerfährt: Ende 2019 hatte ein Sturm dem fauligen Holz der 4,5 Meter hohen und 400 Kilogramm schweren Statue den Rest gegeben und den Geigenhals abgebrochen.
Ein paar Takte Bach genügen oft zur Einschätzung eines Instruments
Nächste Station: die Meisterwerkstatt von Reinhard Leonhardt. Sieben bis zehn Jahre lagere dort das Holz auf dem Dachboden, so Julia Klotz, die Tochter des Inhabers. Nach dem Motto: Was lange ruht, klingt endlich gut. Wenig hat die junge sympathische blonde Frau mit der Afra Schlederer aus Ludwig Ganghofers Heimat-Bühnenstück „Der Geigenmacher von Mittenwald“ gemein, die den Gesellen liebt, aber den mächtigen Geigenbauer heiratet. Im Gegenteil: Bald wird sie in vierter Generation den Betrieb übernehmen. Ein Instrument hat sie ebenfalls beim 9. Internationalen Geigenbauwettbewerb eingereicht. Ob es jenes ist, das gerade in der Klangprobe im Konzertsaal der Geigenbauschule begutachtet wird? Das weiß selbst die Jury nicht, denn die Instrumente der 161 Teilnehmer aus vier Kontinenten sind nur mit Nummern kenntlich gemacht. Geprüft wird nach handwerklicher Qualität, Lackierung, Einhaltung der Maße und Material. Danach geht es an den Klang. „Wir testen das Schwingungsverhalten in allen Lagen. Die Tonqualität und die Lautstärke“, so Jurorin Kerstin Feltz. Oft genügen ein paar Takte Bach. An den Doppelgriffen der Sonaten erkennt man ob der Ton trägt. „Wir nehmen uns viel Zeit“, sagt Tim Vogler, Primarius des Vogler-Quartetts. Noch sind die Glasschaukasten im Geigenmuseum leer, in die die prämierten Geigen einziehen werden.
Fast schon genervt reagiert man in Mittenwald, wenn die Rede auf den millionenschweren Zauberklang einer Stradivari kommt. Auf die Musiker käme es an, sagt Leonhardt, dessen Geigen bis zu 20.000 Euro kosten. In Mittenwald ist man sich einig: Jacob Stainer, der zwanzig Jahre vor Stradivari lebte, hat genauso gute Geigen gebaut.