In Takt 67 stehen bei mir aber Achtelnoten.“ Dirigent Lothar Zagrosek blickt irritiert auf. Doch die Lösung ist rasch gefunden: Seine Partitur ist schlicht nicht mehr aktuell. „Die Stelle hatte ich bereits überarbeitet“, entgegnet Hans-Henning Ginzel vom Dirigentenpult. Der Münchner ist einer von sechs Teilnehmern des Workshops „Ink still wet“, der alljährlich im niederösterreichischen Grafenegg stattfindet, rund 70 Kilometer westlich von Wien.
Ginzels Mitstreiter stammen aus Zypern, Südkorea, Deutschland, Spanien und Dänemark, sie alle haben frisch komponierte Werke mitgebracht. Die Tinte ist sozusagen noch nicht getrocknet: Daher auch der Titel des Kurses, den in diesem Jahr Jörg Widmann leitet. Gemeinsam mit Zagrosek klopft der Münchner die Werke auf Schwachstellen und Spielbarkeit ab, der Weg zum Stückcharakter wird erschlossen, die praktische Umsetzung der kompositorischen Ideen geprobt – und am Ende steht die Uraufführung durch das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich. Eine Assistentin eilt in den Probensaal in der früheren Reitschule auf dem Festivalgelände und bringt aktuelle Kopien vom Notenmaterial. Partituren, die allesamt sehr komplex sind, die Kandidaten haben viel in die Waagschale geworfen: rhythmisch vertrackte Strukturen, ungewohnte Spielarten, Klangexperimente – aber auch neoromantische Sinfonik und filmmusikalische Effekte.
Am ersten Tag finden die Proben noch ohne Orchester statt. Ein Dirigat auf dem Trockenen, später begleitet dann eine Pianistin, werden erste Harmonien und Melodien erkennbar. So auch bei Franz Ferdinand August Rieks: Er ist mit 16 der jüngste Teilnehmer und hält zum allerersten Mal einen Taktstock in der Hand. Penibel macht ihn Zagrosek auf jeden falschen Schlag aufmerksam, geht es doch darum, sich punktgenau dem Orchester mitzuteilen. Intensiv wird hieran in den nächsten Tagen gearbeitet, Videoaufzeichnungen vertiefen die Analyse.
Phantasie ist gefragt: Visionen statt alte Formen
Jörg Widmann studiert derweil die Noten, notiert sich Anmerkungen und mischt sich immer wieder ins Geschehen ein. „Hier, an der Stelle in den Harfen hast du eine gute Idee, die kannst du aber noch besser entwickeln“, motiviert der Bayer die Zypriotin Christina Athinodorou. „Und du musst es anders notieren, eine Harfenistin wird sonst denken, dass du ihr Instrument nicht kennst. Auch die Oboen, da musst du drauf achten, dass du nicht in eine falsche Tonlage kommst.“ Reichlich handwerkliche Details, doch auch grundsätzliche Gedanken hält der Klarinettist für die jungen Komponisten parat. „Ich habe kein Problem mit Tonalität. Aber es kommt drauf an, wie ihr sie benutzt, macht es mit Fantasie!“
Sein erster Eindruck? Er stelle bei den Teilnehmern eine Rückbesinnung auf alte Formen und aufs Tonale fest, sagt Widmann in einer Probenpause. „Handwerklich können die vielleicht jetzt schon mehr als ich damals in ihrem Alter – was sie geschrieben haben, wird alles funktionieren, es wird alles klingen“, lobt der Meister den Nachwuchs. „Mich interessieren aber vor allem ihre Visionen – und da will ich auch auf unakademische Weise wirken: Wenn sie sich an bestimmte alte Formen klammern, ist es mir wichtig, Wege aufzuzeigen, wie es woanders hingehen könnte.“
Für ihn selbst geht es in diesen Tagen zu einem neuen Klavierkonzert, das Yefim Bronfman im Dezember mit den Berliner Philharmonikern uraufführen wird. „Ich schreibe nachts ziemlich durchgehend.“ Tagsüber indes führt er die Nachwuchs-Talente an die Orchesterwelt heran. Behutsam, haben doch die wenigsten Klangkörper-Erfahrung, ja für den Teenager Rieks – einen Studenten Wolfgang Rihms – ist es sogar die allererste Erfahrung mit einem großen Ensemble. Seine sinfonische Dichtung Migremus per Finientem wechselt dabei zwischen dichtem Orchestersatz und anspruchsvollen Solopassagen, vor allem die knifflige Rhythmik gerät zur Herausforderung. Wobei die Musiker bei der ersten Bläserprobe vor allem das undeutliche Dirigat bemängeln: „Sie sollen nicht uns folgen, sondern wir Ihnen.“ Hinweise, die Rieks bewundernswert schnell umsetzt – und noch staunenswerter ist, wie sorglos der 16-Jährige vier Tage später die Uraufführung dirigiert. „Ich habe viel mit der Orchesterbalance gearbeitet, mir kamen beim Dirigieren auch weitere Ideen, zum Beispiel wie ich ein räumliches Glissando erzielen kann“, erzählt der groß gewachsene Wuschelkopf. „Und es war mir wichtig, für die einzelnen Musiker interessante Partien zu schreiben: Nach dem Konzert hat sich auch ein Fagottist für das Solo bedankt, das ich für seine Stimme komponiert habe.“
Musik die zu Herzen geht
Unmittelbares Feedback, das auch Henrik Budde zu schätzen weiß. „Es ist großartig, diese Reaktionen zu bekommen, von Musikern, die ihr Instrument auf sehr hohem Niveau spielen“, sagt der Däne, Jahrgang 1982. „Sie fragen immer wieder, ob der Klang nun meiner Intention entspricht.“ Sein Stück Cartoony Edition enthält viele lautmalerische Effekte und auch die eine oder andere Klanginnovation: So erklärt Budde dem Schlagzeuger bei der ersten Orchesterprobe etwa, wie er durch bloßes Blasen gegen die Marschtrommel den gewünschten Sound erzielen könne. Sein Stück führt dem Hörer innerhalb von nur zwei Minuten den ganzen Variantenreichtum des Orchesterklangs vor und lässt mit Tonreibungen, jazzigen Harmonien und Blitz-Akzenten im Schlagwerk vor dem inneren Auge des Zuhörers Bilder einer ganz eigenen Couleur entstehen – irgendwo zwischen Disney und Charlie Chaplin. „Widmann sagte zu mir: ,Wenn ich darüber lache, ist das in diesem Fall ein Kompliment.‘“
Ein Kompliment mit Gewicht. Und wer den Prozess der Einstudierung eines solchen Orchesterstücks verfolgt, bekommt zumindest eine Ahnung davon, wie schwierig es offenbar ist, mit diesem vielschichtigen Klangkörper beim Hörer Emotionen zu wecken.
„Große Musik war immer die, die einen berührt“, sagt Widmann. „Da gilt das Beethoven-Diktum: Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen.“ Und der Komponisten-Nachwuchs beweist Talent bei dieser Übersetzung einer Idee oder eines Gefühls in Orchesterklang – vielleicht auch, da keiner von ihnen Berührungsängste kennt, weder gegenüber trivialen noch gegenüber intellektuellen musikalischen Lösungen.
Ihr vielleicht größter Trumpf aber ist, mit diesem Workshop einen Mentor von Gewicht gewonnen zu haben: Schließlich ist Widmann heute nicht nur mit seinen eigenen Werken in den Konzertsälen prominent vertreten, vor allem fordert der Komponist angesichts von Sparzwängen und Orchesterschließungen auch immer wieder die Unterstützung für zeitgenössische Musik ein. „Es ist ja die Frage, ob es die Institutionen und Foren, die wir für unsere Musik haben, in zehn bis fünfzehn Jahren noch geben wird. Oder ob diese toll ausgebildeten Musiker ihre Plattform verlieren werden.“