Haargenau so, wie man es sich an einem Herbsttag in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel vorstellt, regnet und stürmt es auf dem Campus der Christian-Albrecht-Universität beim Besuch der Johannes Brahms Gesamtausgabe, die an das Musikwissenschaftliche Institut der Universität angegliedert ist und in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien entsteht.
Doch nicht nur das ruppige Kieler Wetter erinnert an Johannes Brahms, dessen Gemüt mitunter als schroff und kratzbürstig überliefert ist, auch die Mitarbeiter der Kieler Forschungsstelle widmen sich täglich dem Leben und Werk des Meisters. Sie edieren aus einem Fundus an überlieferten Autografen, Abschriften, Skizzen und Erstdrucken sämtliche Werke von Johannes Brahms – für wissenschaftliche Zwecke und natürlich für den musikpraktischen Einsatz.
Johannes Brahms Gesamtausgabe in 68 Bänden
Insgesamt vier wissenschaftliche Mitarbeiter arbeiten heute unter der Leitung von Prof. Dr. Siegfried Oechsle an der Herausgabe der Brahms’schen Werke. „Eine Mitarbeiteranzahl, an die zu Gründungszeiten der Forschungsstelle nicht zu denken war“, erinnert sich Dr. Michael Struck, der 1985 gemeinsam mit Prof. Dr. Friedhelm Krummacher die Gesamtausgabe gründete. „Nachdem das Land Schleswig-Holstein seine finanzielle Unterstützung zusagte und auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung als Förderer ins Boot geholt werden konnte, ging es 1991 richtig los.“
Insgesamt 27 Bände sind seither erschienen, nach jetzigem Stand sollen es 68 Bände werden, Tendenz steigend. „Natürlich wurden zunächst die Noten gewichtiger Werke, wie die vier Sinfonien ediert und publiziert“, resümiert Dr. Katrin Eich. „Da aus den Hauptbänden in sogenannten Zweitverwertungen beispielsweise Studienpartituren oder Orchesterstimmen entstehen, ist das Interesse des Verlages bei den sinfonischen Werken groß.“
„Detektivarbeit gehört natürlich dazu“
Der Entstehungsprozess eines Notenbandes ist dabei von unterschiedlichen Bedingungen abhängig. „Der erste Blick geht in das 1984 erschienene Brahms-Werkverzeichnis von Margit McCorkle, welches sämtliche Quellen und überlieferte Skizzen auflistet“, erklärt Dr. Jakob Hauschildt.
Der nächste Schritt ist, die Genese des Werkes nachzuvollziehen. „Dazu werden sämtliche Manuskripte kategorisiert und Note für Note verglichen, um den Kompositionsprozess sozusagen vom Einfall bis zum Beifall zu rekonstruieren“, erläutert Dr. Michael Struck. „Detektivarbeit gehört natürlich dazu. Es tauchen immer wieder neue Handschriften von Brahms auf, dazu stehen wir in Kontakt mit Sammlern und Auktionshäusern.“ Auch der eine oder andere Überraschungsfund ließ nicht lange auf sich warten.
Neue Facetten in Brahms‘ Schaffen
So freuten sich die Kieler Brahmsforscher , dass mit zwei Männerchorkompositionen die frühsten überhaupt bekannten Werke von Johannes Brahms wiederentdeckt wurden, auch erarbeitet Dr. Johannes Behr zusammen mit einem auswärtigen Herausgeber derzeit einen Band, der eine verschollen geglaubte Frühfassung des ersten Satzes des Triumphliedes enthalten wird. „Es ist ein großes, teilweise lückenhaftes Puzzle, da Brahms als äußerst selbstkritischer Komponist viele seiner Skizzen vernichtete“, erzählt Dr. Katrin Eich. „Dennoch lernt man immer wieder neue Facetten in Brahms’ Schaffen kennen, was die Arbeit entgegen vieler Annahmen nie langweilig werden lässt.“
Nicht jede Brahms-Quelle ist zugänglich
Tragisch ist es nur, wenn die vier Forscher wissentlich existierende Quellen für ihre Edition nicht verwenden können. Das kommt mitunter vor, wenn Privatsammler ihre „Schätze“ nicht herausgeben möchten, häufig aus Angst einen Wertverlust hinnehmen zu müssen. „Dass der Wert der Handschriften durch unsere Expertise häufig steigt, ist vielen Sammlern nicht bewusst“, bedauert Dr. Michael Struck.
Dennoch, die Arbeit an der Kieler Johannes Brahms Forschungsstelle geht weiter, schließlich sollen in Zukunft sämtliche Werke des gebürtigen Hamburgers nach historisch-kritischen Ansprüchen als Notentext vorliegen. Vielleicht wartet ja sogar noch das eine oder andere verschollen geglaubte Werk auf seine Wiederentdeckung. Der Kieler Dauerregen jedenfalls kann das nicht verhindern.