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Reportage Kazushi Ono & Tokyo Metropolian Symphony Orchestra

Shabu Shabu Schnittke

Klassische Musik, das hieß in Japan bislang Mozart und Beethoven. Kazushi Ono und das TMSO wollen dies ändern

vonMichael Struck-Schloen,

Keinen Blick hat der Mann für die Massen, die über den schmalen

„Philosophenweg“ von Kyoto flanieren. Augen hat er nur für das, was von oben kommt: zarte Kirschblüten, die sich im sanften Aprilwind von den Zweigen lösen, zu Boden tanzen und auf dem Kies verblassen, gefolgt von neuen Blüten, die den grauen Himmel rosa färben.

Rar sind sie geworden, die Kirschblüten-Philosophen, die unverrückt dem Werden und Sterben der Natur zusehen. Zwar spielt die alte japanische Tradition im privaten Bereich noch eine gewisse Rolle, doch ist sie in den großen Städten längst mit dem westlichen Lebensstil verschmolzen. „Wenn wir frühstücken, nehmen wir einen Caffè latte mit Brötchen, beim Lunch essen wir tradi­tionelle Buchweizennudeln und am Abend vielleicht  chinesische Teigtaschen“, sagt Shinichiro Okabe, Musikwissenschaftler an der Meiji Gakuin Universität und Chef des Archivs für moderne japanische Musik. Wie zur Bestätigung fällt aus seinem Büro der Blick auf einen deutsch anmutenden Fachwerkbau und eine Kirche im nordischen Stil. „Diese Mischung ist für heutige Japaner ganz normal, und man findet sie auch auf kulturellem Gebiet  in der Architektur, den Bildenden Künsten, der Musik.“

 

Modernisierung mit Mozart und Beethoven

 

Vor kurzem hat der Professor diese Gleichzeitigkeit dokumentiert in einer Ausstellung zum japanischen Musikleben, das wie ein Spiegel der Landesgeschichte dünkt. Auf Druck der USA wurde die selbstgewählte Isolation Japans um die Mitte des 19. Jahrhunderts beendet, in den folgenden Jahrzehnten das Land nach amerikanischem und europäischem Vorbild radikal modernisiert. Die Japaner kopierten westliche Regierungssysteme, westliche Schulbildung und Industrialisierung – und lernten die westliche Musik lieben. Amerikanische Dirigenten und italienische Operntruppen kamen ins Land, Konservatorien und Konzertgesellschaften wurden gegründet, Musik von Mozart und Beethoven im Schulunterricht verankert.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Japan durch die amerikanische Besatzungsmacht eine zweite Welle der „Verwestlichung“ erlebte, wurden in Tokio wie in der Provinz etliche Kulturorchester gegründet, die sich am klassischen Repertoire abarbeiteten und westliche Dirigenten mit üppigen Gagen lockten. 1965 leistete sich dann auch die Stadt Tokio einen eigenen Klangkörper: das Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra (TMSO). In den vergangenen 50 Jahren hat sich das TMSO unter Dirigenten wie Moshe Atzmon, Hiroshi Wakasugi, Gary Bertini oder Eliahu Inbal ein breites stilistisches Spektrum erworben, mit einem Schwerpunkt auf der spätromantischen Sinfonik. Allerdings hatte auch dieses Orchester in den letzten Jahren unter der allgemeinen Wirtschaftsflaute, einer künstlerischen Stagnation und der Veränderung des Klassik-Publikums zu leiden. Frischer Wind musste her in Gestalt eines neuen Musikdirektors – und man hat ihn gefunden: Kazushi Ono. Ein Japaner, der aus Europa kommt – die typische Mischung also.

 

Den ganzen Tag hat Ono Mahlers Siebte Sinfonie in der Tokyo Bunka Kaikan geprobt, dem Stammhaus seines neuen Orchesters am kirschblütenübersäten Ueno-Park. Der Maestro ist erschöpft, Schweiß tropft ihm von der Stirn. „Für meine Generation, die in eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs in Japan hineinwuchs, bedeutete Musik einfach westliche Musik.“ 1960 in Tokio geboren, hat Ono bei seinem Studium in der Heimat, vor allem aber in Europa die westliche Musik intensiv kennengelernt. In München durfte er bei Wolfgang Sawallisch die vielfältigen Aufgaben eines Generalmusikdirektors erleben, während ihm in Giuseppe Patanè ein wahrhaftiges Operntier mit riesigem Repertoire und exzessiver Lebensweise begegnete. „Patanè hat sein Leben genossen, und ich musste als Assistent öfters seine Liebesbriefe überbringen. Aber er war ein musikalisches Genie und hat nie eine Partitur zur Probe mitgebracht.“

 

Über Karlsruhe, Brüssel und Lyon zurück zu den Wurzeln

 

Sein Karrierestart geriet vielversprechend: Am Badischen Staatstheater in Karlsruhe wurde Ono erstmals mit der Leitung eines Opernhauses betraut, am Brüsseler Opernhaus hat er mit einer klugen Repertoirepolitik und musikalisch großen Abenden Maßstäbe gesetzt. Seit 2008 prägt er als Chefdirigent der Oper in Lyon die künstlerische Linie des Hauses zusammen mit dem Intendanten Serge Dorny; seit diesem Herbst leitet er neben dem TMSO auch das „Orquestra Simfònica de Barcelona i Nacional de Catalunya“.

Dennoch nimmt Ono den kulturellen Auftrag in der Heimat ernst. Denn das Musikleben auf der Insel ist nach wie vor sehr konservativ und unterscheidet sich vom breiten Programmspektrum in westlichen Ländern. Okabe gibt dem neuen Mann denn auch gute Chancen für eine Erneuerung.

 

„Wenn man sich manche Orchester oder die Nationaloper in Tokio ansieht, dann resultiert die Krise der klassischen Musik auch daraus, dass sie Angst vor dem Neuen haben. Man geht auf Nummer sicher, engagiert große Namen und bleibt programmatisch bei Mahler, Brahms oder Mozart stehen“, sagt der Musikwissenschaftler. „Ono ist von anderem Kaliber: Er hat schon vor zwanzig Jahren interessante Programme mit dem Tokyo Philharmonic Orchestra gemacht und will jetzt mit dem TMSO etwas substanziell Neues schaffen. Wenn Sie eine so starke Persönlichkeit im Herzen einer Institution haben, dann könnte sich diese Institution ändern – und die Gesellschaft mit ihr.“

Das erste Signal, dass er tatsächlich etwas wagen will, gibt Ono mit seinem Einstandskonzert in Tokios guter Stube, der Suntory Hall. Beethovens Fünfte kombiniert er mit der japanischen Erstaufführung der Fünften Sinfonie Alfred Schnittkes einem dissonanten, oft schrillen Werk voller polyphoner Reibungen, das die Beethoven-Verehrer im Saal auf eine harte Probe stellt. 

Nach Onos Konzert wartet Toshio Hosokawa vor dem Eingang der Suntory Hall. Auf einem altmodischen Straßenschild steht in Frakturlettern „Herbert von Karajan Platz“ eine rührende Hommage an den Salzburger, der in Japan immer noch wie ein Gott verehrt wird. Da nach dem kräftezehrenden Konzert alle Hunger haben, erklärt sich Hosokawa bereit, den „Food-Scout“ zu machen. In atemberaubendem Tempo biegt der kleine Mann um Straßenecken, riecht in Küchen und blickt auf Speisekarten, bis er ein vielversprechendes Gasthaus ausgemacht hat. Schon im Vorraum empfängt einen der Lärm sakeseliger Angestellter, die ihre neuen Kollegen hochleben lassen. Hosokawa bestellt einen Feuertopf, in dem Gemüse und hauchdünnes Fleisch gesotten wird eine Art japanisches Fondue, das den lautmalerischen Namen „Shabu Shabu“ trägt.

Uraufführung in Erinnerung an die Fukushima-Katastrophe

 

Hosokawa ist der bekannteste lebende Komponist. Da versteht es sich fast von selbst, dass ihm Ono für seine erste Saison den Auftrag zu einem neuen Werk gegeben hat, das am 2. November in der Suntory Hall uraufgeführt wird und auf der Europatournee des TMSO seine Deutschlandpremiere in Berlin erlebt. Nach dem Sturm ist ein 18-minütiges Orchesterstück mit zwei Sopranen auf Hesses Gedicht Blumen nach dem Unwetter, in dem die Welt nach der Katastrophe allmählich wieder zu neuem Leben und neuer Schönheit erwacht. Die Anspielung wird verständlicher, wenn man weiß, dass Hosokawa hier Musik für seine neue Oper Stilles Meer über die Folgen des Tsunami von Fukushima benutzt, die im Januar 2016 in Hamburg Premiere haben wird.

 

Taktstöcke für die Jugend

 

Gerade weil das Thema Fukushima und die Folgen von der japanischen Politik weitgehend totgeschwiegen werden, muss es ein Thema für die Kunst sein. Und sicher ist es gut aufgehoben beim TMSO, das sich auch sonst für die Bevölkerung der Neun-Millionen-Stadt engagiert und im Jahr mehr als sechzig Schulkonzerte gibt, bei denen Ono seine Taktstöcke unter der Jugend verteilt und ihnen die Feinheiten eines crescendo erklärt. „Unter klassischer Musik“, so formuliert es Okabe, „versteht man in Japan vor allem die schöne westliche Musiktradition und nicht das Neue, das in Tokio geschaffen wird.“ Es sieht so aus, als würden Ono und sein neues Orchester daran bald etwas ändern.

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