Nur unter Zwang scheint sich etwas zu bewegen, und dieser Zwang heißt Corona: Ob im Homeoffice per Zoom-Konferenz, im Schulunterricht ohne physische Präsenz per App oder beim Konzertgenuss per Streaming: Endlich wird in vielen Bereichen des Lebens, Lernens und Arbeitens ausprobiert, was lange als Zukunftsvision galt. Doch es ruckelt noch gewaltig. Nicht jeder Handgriff sitzt, wenn man sich mit ungewohnten Tools beschäftigen muss, nicht jedes abgefilmte Streichquartett ist großes Kino, nicht jede spontane Digital-Idee tatsächlich neu, nicht jede Webseite nutzerfreundlich. Aber es tut sich was.
Damit sich noch mehr tut, haben sich nun drei Kulturinstitutionen zusammengeschlossen, um in einem gemeinsamen, vom Bund geförderten Modellprojekt Konzerthäuser und Bühnen für die Zukunft fit zu machen. Die drei Player sind: der Pierre Boulez Saal in Berlin, das Beethovenfest Bonn und das Ensemble Resonanz aus Hamburg. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt vom Centre for Digital Cultures (CDC) der Leuphana Universität Lüneburg.
Systematische Entdeckungsreise
Ole Bækhøj, Intendant des Pierre Boulez Saals, ist jetzt schon fasziniert von den Chancen, die das Projekt aufzeigen und erforschen wird. Der aus Dänemark stammende Kulturmanager, der bis 2015 das Mahler Chamber Orchestra leitete, freut sich auf eine „systematische Entdeckungsreise“. Von der Technik her sei so unendlich viel möglich. Die Begrenzung liege eher im Kopf. „Das heißt aber nicht, dass wir alles machen, was irgendwie möglich ist. Nur weil die Dinge digitalisierbar sind, muss man sie nicht alle digitalisieren. Ich liebe das Konzertritual, die Akustik, die Architektur, das physische Erlebnis, das Gemeinschaftsgefühl. Das ist nicht vollständig abbildbar, wenn man nur eine einfache Audio- oder Videoaufnahme erstellt. Da braucht es mehr Ideen.“
Wie beim Aufkommen des Mediums Film zum Ende des 19. Jahrhunderts machte man zunächst einfach das, was man kannte: Konzerte abfilmen. Die damaligen Stummfilme sahen aus wie abgefilmtes Theater, aber schnell stieß man auf das enorme Potenzial, das im Zelluloid steckte: Schnitttechnik, Stopptricks, Doppelbelichtungen, später Kamerafahrten, Zooms, die Revolution durch den Tonfilm. Und die Vertriebswege erweiterten sich, zunächst mit einem anderen neuen Medium, dem Radio. „Plötzlich war es möglich, Inhalte an alle zu kommunizieren, die ein Empfangsgerät besaßen, egal wo sie sich gerade befanden“, so Bækhøj. „Aber es war immer noch Broadcast. Nur eine Richtung, vom Sender zum Empfänger, ohne Rückkanal. Und genau dieser Rückkanal zeichnet moderne beziehungsweise digitale Kommunikation aus. Ich finde es extrem spannend, dass jetzt Interaktionen stattfinden können.“ Auch sein Konzertsaal hat sich bereits in diese Richtung geöffnet.
Per Chat im Pierre Boulez Saal
140.000 Besucher lassen sich nicht gleichzeitig im intimen Oval des Pierre Boulez Saals unterbringen. So viele waren es jedoch, die das Neue-Musik-Festival „Distance/Intimacy“ im Juli letzten Jahres online verfolgen konnten. Zehn vorproduzierte Uraufführungen wurden von den Kuratoren Daniel Barenboim und Emmanuel Pahud aus Berlin live präsentiert und kommentiert. Und nicht nur das: Per Chat konnten sich die Festivalgäste zuschalten und Fragen stellen – und das selbstverständlich weltweit verstreut. 75 Prozent der Besucher verfolgten außerhalb Deutschlands das „vitale Mit- und Ineinander einer neuen Kunstübung“ (Süddeutsche Zeitung) an Computern, Tablets oder Smartphones.
„Das Erstaunliche war, dass die Besucher viel mehr untereinander kommuniziert haben als mit uns als Veranstalter“, erinnert sich Intendant Bækhøj. „Das war ein sehr anregender Austausch. Wie in der Gamer-Generation, die sich über Discord austauscht, hatten wir ein gemeinsames Erlebnis, live und spontan.“
Auch das Ensemble Resonanz legt mit seiner Beteiligung am Modellprojekt keinen digitalen Kaltstart hin. Man kann bereits Erfolge aufweisen. Auf der Website des selbstverwalteten Streichorchesters stößt man in der Rubrik „resonanz.digital“ neben klassisch abgefilmten Konzerten auf die sogenannte Prozessebene. Da wird es wirklich interessant: Hier finden sich Quellen, Querverbindungen, Interviews und Einblicke in Partiturnotizen. Tobias Rempe, der das Ensemble mitgegründet hat und heute Geschäftsführer der gemeinnützigen GmbH ist, erklärt den Ansatz: „Alle unsere Projekte sollen einen Resonanzraum in der Lebenswelt unserer Hörerinnen und Hörer haben.“ Den engen Kontakt zum Publikum stellt das Hamburger Orchester unter anderem mit seiner Konzertreihe „urban string“ her, die normalerweise monatlich im markanten Hochbunker auf St. Pauli stattfindet und 2016 mit dem Innovation Award der Classical Next ausgezeichnet wurde. Hörstunden, Workshops und die Philosophiegespräche im „bunkersalon“ ergänzen das Programm.
Weil digitale Technologien mittlerweile allgegenwärtig sind und ganz selbstverständlich genutzt werden, muss Rempe keine Überzeugungsarbeit mehr leisten, sondern kann anspruchsvollen Content anbieten. „Wir wollen auch im Digitalen unsere Projekte in den Kontext stellen, in dem sie entstanden sind und stattgefunden haben. Und wenn man in den Hintergründen und in der Geschichte eines Projektes tief genug abtaucht, kommt man vielleicht bei einem ganz anderen Konzert oder Format wieder heraus. Alles ist mit allem verbunden.“ Stichwort Innovation: Was treibt das Ensemble Resonanz an? Nie stehenbleiben, meint Rempe. „Wir arbeiten immer daran, unseren eigenen Weg zu finden, um unser Anliegen umzusetzen, klassische und neue Musik lebendig, zeitgenössisch, exzellent und nahbar zu präsentieren. Und das ist ein steter Prozess der Bewegung.“
Modellprojekt Digitalisierung: Neu kombinieren, neu nutzen
Aber was genau ist eigentlich Innovation? Timon Beyes, Professor für Soziologie der Organisation und der Kultur, definiert sie als „durchgesetzte Kreativität“. Als Direktor des CDC an der Leuphana Universität Lüneburg begleitet er wissenschaftlich das Modellprojekt Digitalisierung. Innovative Ergebnisse seien im weitesten Sinne „technologische, soziale und kulturelle Artefakte und Prozesse, die organisiert sind, als neu wahrgenommen und akzeptiert werden“, sagt er. Als Soziologe und Organisationsforscher interessieren ihn die Wechselwirkungen, die hier im Spiel sind. „Innovationen kommen ja nicht aus einem Jenseits, sondern sind kulturell und sozial bedingt. Sie basieren auf Aushandlungsprozessen und Konflikten. Sie ändern sich in der Zeit, über Neukombinationen oder Nutzungsweisen.“
Genau das erforscht Beyes zusammen mit seinen Kollegen des CDC und den Studierenden der Universität Lüneburg im Modellprojekt. Die Technik sei im Grunde schon da, jetzt gehe es um neue Anwendungen und Ideen für Konzerthäuser, Musiker und Programmgestalter. Wie Bækhøj verweist er darauf, dass bereits vor dem „Digitalisierungsschock“, der von der Corona-Pandemie provoziert wurde, mit der Nutzung von Konzertaufzeichnungen in Online-Archiven experimentiert wurde. Dazu gesellen sich nun neue (Hybrid-)Formate. Nicht zu vergessen seien außerdem Kommunikationswege, Kartenverkaufssysteme, die Infrastrukturen von Planung und Disposition und ähnliche Organisationweisen. „Und nicht zuletzt die Rezeptionsseite, also Erwerb, Konsum und Zirkulation von klassischer Musik.“
In seinen Forschungen berücksichtigt Beyes selbstverständlich auch „Reibungen“, die sich in kulturellen Institutionen zwangsweise einstellen, wenn mit gewohnten Abläufen gebrochen wird und neue Technologien zum Einsatz kommen. Nach den ersten Wochen der Projektarbeit ist ihm aber bereits Positives aufgefallen: „Es wird ein starkes Augenmerk auf einen möglichst breiten Austausch mit unterschiedlichen Gruppen gelegt. Das scheint mir vielversprechend!“ Das Projekt soll zum Dezember 2021 abgeschlossen werden.
Willkommen im 21. Jahrhundert
Aus Sicht von digitalaffinen Unternehmen, insbesondere den Turbo-Startups aus dem Silicon Valley, könnte man der Kulturindustrie mit ihren ersten zaghaften Bemühungen mitleidig zurufen: „Willkommen im 21. Jahrhundert!“ Doch Überheblichkeit ist hier fehl am Platze. Tobias Rempe vom Ensemble Resonanz gibt zu bedenken: „Musik braucht immer Zeit – und das verträgt sich zunächst mit den oberflächlich gewohnten Eigenschaften des digitalen Raumes nicht sofort. Jetzt ist die Chance voranzukommen. Bestimmt auch, weil die Situation es fordert – und weil Förderungen noch expliziter in diese Richtung ausgeschrieben sind.“
Ein kreatives Konzept innerhalb einer nachhaltigen Digitalstrategie, die zum jeweiligen Haus oder Ensemble passt, kann neue Zielgruppen erschließen, gesellschaftliche Teilhabe erleichtern und generell die Akzeptanz eines vermeintlichen Luxusprodukts steigern. An der Kultur wird gern gespart, gerade in Krisenzeiten. Hat sie keinen Rückhalt in der Gesellschaft, fällt es der Politik leichter, die oft beschworene Systemrelevanz an anderer Stelle zu finden und zu fördern.
Das Buzzword Digitalisierung vollbringt bei Entscheidern und Geldgebern häufig Wunder. Auch für das Fundraising, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist es ein starkes Argument. Zugegeben: Keiner sagt, dass radikale (und funktionierende!) Veränderungen schnell vonstatten gingen. „Eine Kunstform, die sich zu einem großen Teil auf Vergangenes bezieht, hat da systemisch eine besondere Herausforderung“, erklärt Rempe. Hineinhorchen und Hinterfragen geht vor Dammbruch und Disruption – wieder so ein neumodisches Schlagwort, das ein Beethoven mit seinen ständigen Korrekturen oder ein Alban Berg mit seiner strengen Verdichtung nicht kannten. Visionäre (und in diesem Sinne zeitverzögert dann doch disruptiv) waren aber beide.
Das Offene schauen
Fast visionär scheint auch das Motto zu sein, das das Ensemble Resonanz für seine Saison 2020/21 ausgerufen hat: „Das Offene schauen“, nach einem Zitat von Friedrich Hölderlin. „Die Titelwahl hatte natürlich Gründe, aber keine mit der jetzigen Corona-Situation verbundene“, erklärt Rempe. „Lockdown hin oder her: Mit digitalen Formaten können wir auch 2021 den Spielbetrieb fortsetzen.“
Die Maßnahmen machen sich also bezahlt. Digitalisierung ist mit Sicherheit eine gute Investition in jene Zukunft, die mit neuen Erkenntnissen aus dem Modellprojekt noch deutlicher greifbar werden soll. Hölderlin hat es in seiner Elegie so mitreißend formuliert: „So komm! Dass wir das Offene schauen, dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ Manchmal gerät die Zukunft schneller in Sichtweite als man denkt.