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Der „Musaik e.V.“ bietet Kindern kostenlosen Instrumentalunterricht

Ein pädagogisches Paradies

Wie im Dresdner Plattenbauviertel Prohlis ein einzigartiges musikalisches Bildungsprojekt erblüht.

vonChristian Schmidt,

Diese Worte, ganz leicht dahingesagt, ohne Pathos, sie sitzen. „Ich habe mich für das Cello entschieden, weil es mich an das laute Geräusch unseres Bootes erinnerte, mit dem wir aus Syrien übers Mittelmeer kamen, als ich vier Jahre alt war“, sagt Hala. Von der Existenz dieses Instruments ahnte die heute Vierzehnjährige damals freilich nichts. Bis ihre Mutter in einem Dresdner Einkaufszentrum am Rande der Stadt einen Flyer in die Hände bekam, auf dem ein ganz neuer Verein mit dem Namen „Musaik e.V.“ Kinder und Jugendliche zu kostenlosem Musikunterricht einlud. Seitdem übt Hala nicht nur selbst immer fleißig weiter, sondern hilft auch beim Unterrichten ihrer Kompagnons im Proberaum der 122. Grundschule, einem typischen DDR-Plattenbau, wie sie hier überall stehen.

Rings um die Szene ragen in die Jahre gekommene Neubaublöcke in die Höhe: sechs, zehn, siebzehn Geschosse, viele saniert, manche noch immer im Originalzustand vom Ende der siebziger Jahre, zumindest äußerlich. Einige wurden längst abgerissen. Rund um den ehemaligen Dorfkern tobt zwischen hohen Häuserfluchten und den kümmerlichen Resten einstiger „Kunst am Bau“ das wahre Leben. Auf nicht mal anderthalb Quadratkilometern leben hier über 14.500 Menschen. Prohlis, einst Vorzeigeobjekt und begehrte Wohngegend, ist heute das, was man gemeinhin einen Problembezirk nennen würde – mit all den Konflikten, die in einem sozialen Brennpunktviertel wohl in jeder deutschen Stadt aufbrechen. Eigentlich ist der Stadtteil inzwischen sogar grün, schon immer gut erschlossen, reich an Infrastruktur. Aber eben Opfer seines Images – oder doch leichthin kolportierter Vorurteile?

Denn mittendrin: eine Oase der Musik. Seit fünf Jahren engagiert sich der Verein „Musaik – Grenzenlos musizieren e.V.“ für die Prohliser Kinder, die meisten von ihnen fernab vom reichhaltigen Kulturleben der Stadt lebend. Das Projekt ermöglicht mit fünfzehn Lehrenden aus sechs Nationen mehr als hundert jungen Menschen im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren, Streich-, Blas- oder Schlaginstrumente zu erlernen – vollkommen kostenlos. Aber warum gerade in Prohlis? „Wir gingen davon aus, dass die Kinder hier nicht so stark in andere Freizeitaktivitäten eingebunden sind und kaum Möglichkeiten wie in Dresdens bürgerlichen Vierteln haben, an kulturellem Leben teilzunehmen und musische Bildung zu genießen“, sagt Gründerin Luise Börner.

Die Kinder sind hochkonzentriert
Die Kinder sind hochkonzentriert

Von „König der Löwen“ bis Tschaikowsky

Seit die 35-Jährige mit ihrer Kommilitonin Deborah Oehler nach dem Studium nach Peru ging, um dort als Freiwillige in einer dem venezolanischen „El Sistema“-Prinzip angelehnten Musikschule zu unterrichten, überlegten beide, was aus Südamerika zu übernehmen sei, um das Modell auch hier auszuprobieren. In einem ehemaligen Eiscafé wurden die beiden fündig, begannen zunächst höchst provisorisch in einem einzigen Raum und rein ehrenamtlich.

Erst mit der Zeit entwickelte sich das Projekt zu einer größeren Sache. Jedes Jahr kamen neue Kinder dazu, und auch Spender, Stifter und sogar eine städtische Förderung für eine Teilzeitstelle fanden sich. Die Lehrkräfte indes werden komplett durch eingeworbene Mittel finanziert, und weil viele Stiftungen immer nur ein besonderes Projekt fördern, müssen die Initiatorinnen besonders kreativ sein: Fünf Konzerte stellen sie in jedem Jahr auf die Beine, in die sie all ihre Schüler integrieren, vom Anfänger bis zum Fortgeschrittenen.

Das können bekannte Songs aus dem Musical „König der Löwen“ sein, Episoden aus Tschaikowskys „Nussknacker“, aber auch Tanzrhythmen und Lieder der ursprünglichen Heimat. Oder die Kinder begeben sich auf Spurensuche durch Prohlis und andere Stadtteile, fangen dort typische Geräusche ein und verarbeiten sie dann zu eigenen Stücken, für die sie selbst Bühnenbilder herstellen. Dabei musizieren sie nicht nur, sondern spielen auch zwischendurch, singen oder toben sich bei Schnitzeljagden aus.

Beim bevorstehenden neuen Projekt kommt sogar ein Streichquintett der Sächsischen Staatskapelle nach Prohlis, dessen Mitglieder den fortgeschrittenen Schülern einen Meisterkurs geben und mit ihnen dann zusammen konzertieren. „Bei der Gelegenheit werden wir auch in die Semperoper zu einer Generalprobe eines Kinderkonzertes gehen, sicher ein Höhepunkt in unserem Kalender“, sagt Luise Börner. Das Preisgeld ihrer Herbert-von-Karajan-Ehrung spendete die Staatskapelle übrigens an die Musaikler. Das weltberühmte Orchester will auch längerfristig mit dem Nachwuchs aus Prohlis zusammenarbeiten.

Im „Musaik e.V.“ lernen die Kinder auch das echte Konzertleben kennen
Im „Musaik e.V.“ lernen die Kinder auch das echte Konzertleben kennen

Kulturelle Teilhabe auf hohem Niveau

Die Erfolgserlebnisse, die die Kinder hier haben, wenn sie in der Schulturnhalle vorspielen, sind mit Händen zu greifen. Auf Turnmatten und Holzbänken sitzen Eltern, Verwandte, Schulfreunde – und sind selbstredend das beste Publikum, das man sich vorstellen kann: In der Regel selbst kaum einmal in den Genuss kultureller Teilhabe gekommen, dürfen sie hier, im Schummerlicht zwischen Kletterstangen und Umkleidekabinen, gemeinsam stolz darauf sein, was ihre Kinder, die es manchmal vielleicht in der Schule schwer haben, hier alles leisten, dürfen sie soziale Probleme vergessen und einfach ihrer Freude an der Musik freien Lauf lassen.

Migrationsfamilien sitzen dort neben sozial Schwachen und Arbeitssuchenden – das Wählerpotenzial für die AfD ist hoch in Prohlis. Doch hier führen Hala und Jason, Mustafa und Emily nebeneinander ihrem Publikum vor Augen, wie Integration funktioniert: über Töne. Die Resonanz ist überwältigend, das Glücksgefühl auf beiden Seiten beim üppigen Applaus sorgt für echte Gänsehautmomente. „Eine syrische Mutter hat uns gesagt, dass sie nach ihrer Flucht das erste Mal in Deutschland wirklich glücklich war, als sie ihre Kinder hier auf der Bühne erlebt und verstanden hat, dass sie hier angekommen sind“, berichtet Luise Börner, die selbst schon in viele Wohnungen eingeladen wurde. „Wenn man so etwas erreicht, geht das weit über die Musik hinaus.“

Ein riesiges Orchester, nein, eigentlich gleich mehrere finden sich da zusammen, um je nach eigenen Fähigkeiten gemeinsam zu musizieren. Es muss ein ziemlicher Aufwand sein, die Stücke, die dann zusammen erarbeitet werden sollen, für die vier Niveaustufen zu arrangieren. Erst nach und nach erarbeiten sich die Kinder echte Noten, zu Beginn sitzen sie zusammen vor großen Tafeln, auf denen bunte Zeichen stehen. Nach einem Jahr dürfen sie ihr Leihinstrument – häufig aus Spenden zur Verfügung gestellt – mit nach Hause zum Üben nehmen, wenn verlässlich ist, dass sie damit umgehen können und regelmäßig kommen.

Der Gruppenunterricht ist dabei für das Lehrpersonal das Gebot der Stunde, „denn der Erfolg beim gemeinsamen Erlernen des jeweiligen Instruments stellt sich allein schon durch die Intensität – die Kinder üben dreimal pro Woche je zwei Stunden – mindestens genauso schnell ein, als würden sie einzeln an normalen Musikschulen unterrichtet“, sagt Luise Börner, die nebenher auch als Honorarkraft am Dresdner Heinrich-Schütz-Konservatorium den direkten Vergleich hat. Für eine Gruppe stehen immer mehrere Lehrpersonale zur Verfügung: Während einer vorn spiegelverkehrt zeigt, was zu spielen ist, gehen andere durch die Reihen und korrigieren oder helfen bei Schwierigkeiten jedweder Art. „Der Gruppenunterricht ist uns auch deswegen wichtig, weil die Kinder dabei zu einem festen Ensemble zusammenwachsen“, so Börner. „Als dritter sozialer Ort neben Elternhaus und Schule bieten wir hier auch so etwas wie eine Ersatzfamilie.“

Auch Hala möchte diesen sozialen Zusammenhalt nicht missen. „Ich will hier weiterlernen, und mir ist die Gruppe lieber als Einzelunterricht, der ja auch ziemlich viel kostet“, erklärt sie. Dann rollt sie die „Noten“-Plakate zusammen, erinnert eine Mitschülerin an das Entspannen des Bogens und sagt ganz nebenbei wieder so einen Satz, der staunen macht: „Ich möchte später selbst mal Cellolehrerin werden.“ Die Grundlagen dafür legt sie gerade.

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