Ein öffentliches Lamento über das Leiden des eigenen Berufsstands in der Corona-Pandemie wird man von deutschen Orchestermusikern nicht so schnell hören. Das wäre in den Augen vieler festangestellter Orchestermitglieder ungehörig. Man würde die eigenen Probleme vor diejenigen der freiberuflichen Musikerinnen und Musiker stellen. Diese stehen ungleich gravierenderen Herausforderungen gegenüber: schlecht konzipierten Sofort- und Überbrückungshilfen, konkreter Existenzangst, Berufswechsel gar. Auch Musikstudierende seien stark verunsichert, denn ihnen fehle das Hinarbeiten auf den öffentlichen Auftritt, beobachtet Sieglinde Fritzsche, Geigerin in der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin. „Lampenfieber und Auftrittsangst sind aber schon unter normalen Umständen ein ganz wesentlicher Aspekt in der Musikermedizin. Solche Probleme werden künftig wohl eine noch größere Rolle spielen.“
Gefahren aus zwei Richtungen
Das alles betrifft die angestellten Orchestermitglieder in deutschen Sinfonieorchestern und Theatern nicht, trotz monatelangen Auftrittsverbots. Auch materiell geht es ihnen überwiegend gut, sie werden in der Krise weiterbezahlt. Dennoch ist nicht zu leugnen: Es gibt während der Pandemie berufsspezifische gesundheitliche Gefahren auch für Menschen im Orchesterdienst – Gefahren, die aus zwei verschiedenen Richtungen kommen. Zur tendenziellen Überlastung kommt nun die Nicht-Auslastung – je nachdem, in welchem Orchester man spielt.
Sieglinde Fritzsche, die auch Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der Deutschen Orchestervereinigung ist, sieht während des monatelangen Auftrittsverbots zwei Gruppen mit jeweils spezifischen Problemen: „Orchester, die monatelang gar nichts gemacht haben und Orchester, die weitgehend durchgearbeitet haben“ – allerdings ohne dass sie ihr Publikum sehen. Während die Orchester der Stadt- und Landestheater keine Opernaufführungen spielen dürfen, weil in den Orchestergräben die vom Infektionsschutz vorgeschriebenen Abstände nicht einzuhalten sind, bieten Konzerthäuser oft Onlinekonzerte an. Dass das Publikum die Konzerte von zu Hause aus genießen kann, bedeutet für die Orchester selbst natürlich kein Homeoffice. „Ich kenne auch die Kolleginnen und Kollegen, die bei Streaming-Angeboten und CD-Aufnahmen ein Problem damit haben, wenn sechzig Leute auf der Bühne sitzen“, so Fritzsche. „Selbst bei Einhaltung der Abstände: Man trifft sich vorher, man trifft sich danach in den Pausen – man kann sich oft gar nicht aus dem Weg gehen.“
Viele Musiker würden sich dann vorsorglich krankschreiben lassen. Ausschließlich wegen der Angst vor einer Corona-Ansteckung? Eventuell auch aus individuellen seelischen Gründen. Der Kontakt zu den Mitspielenden ist im Orchesteralltag essentiell. Was, wenn dieser Kontakt im Berufsalltag dauerhaft negativ belegt zu werden droht? „Es ist eine psychische Angespanntheit, und es gibt Kollegen, die dann versuchen, sich dem zu entziehen. Das ist durchaus ernstzunehmen“, sagt Sieglinde Fritzsche.
Allein und depressiv
Claudia Spahn, Leiterin des Freiburger Instituts für Musikermedizin an der Musikhochschule und am Universitätsklinikum Freiburg, sieht die hohen Anforderungen an Kommunikation als Stressfaktor für Orchestermusiker in normalen Zeiten – demgegenüber würde in der jetzigen außergewöhnlichen Phase eher das Wegfallen dieser Kommunikation Musiker unter Stress setzen – im Profi- wie im Laienbereich. Als Beispiel nennt Claudia Spahn eine alleinstehende Geigerin im Rentenalter, die in ihrem Heimatort ein kleines Orchester leitet. „Dann ging es zu Beginn der Pandemie schon los: Die Proben durften nicht mehr stattfinden, aber sie hat sich noch mit einem Quartett treffen können. Dann gab es die Einschränkung des Kontakts zwischen Haushalten – am Ende proben sie jetzt als Duo, und die Dame hat die berechtigte Befürchtung, dass sie bald nur noch alleine spielen kann.“ Wenn einer Person das gemeinsame Musizieren im Alter der Lebensinhalt sei, könne eine solche Situation schon mal zu Depressionen führen.
Claudia Spahn hat als studierte Musikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin einen Behandlungsschwerpunkt bei der integrierten psychosomatischen Behandlung von Musikern. Körperliche Beschwerden werden an ihrem Institut jedoch ebenso behandelt. „Wir haben eine unvermindert hohe Nachfrage an Terminen in unserer musikermedizinischen Sprechstunde“, sagt Spahn. Das verwundert auf den ersten Blick – schließlich sind viele alltägliche gesundheitliche Risiken des Orchesterspiels, die ihren Patienten sonst zu schaffen machen, zur Zeit minimiert: die jahrelange Über- oder Fehlbelastung von Gelenken und Sehnen etwa – oder ungünstig eingeübte Bewegungsabläufe, die sich im Stress des normalen Proben- und Konzertbetriebs nur schwer korrigieren lassen.
Neue Probleme im zweiten Lockdown
„Bei Patienten, die wir regelmäßig bei uns haben, sehen wir interessante Entwicklungen und Verläufe.“ Hier habe sich zu Beginn der Pandemie vor einem Jahr vieles zum Positiven hin entwickelt. Den überstrapazierten Armen, Schultern, Fingern und Lippen ihrer Patientinnen und Patienten müssten Spahn und ihre Kollegen Ruhe normalerweise ärztlich verordnen – nun erzwingen bereits die äußeren Umstände diese Ruhe. Doch mit dem zweiten Lockdown stellten sich teilweise neue Probleme ein: „Ab November hat sich die psychische Beeinträchtigung immer stärker in den Vordergrund geschoben.“ Man vermisste das Spiel mit den Kolleginnen und Kollegen, und Spahn hörte von Musikern auch die Frage: „Welche Funktion in der Gesellschaft habe ich eigentlich noch?“
Zu solchen Zweifeln am tieferen Sinn des eigenen Tuns kämen pragmatische Überlegungen hinzu, sagt Sieglinde Fritzsche. Kann ich musikalisch noch mithalten, wenn alles vorbei ist? Solche Fragen stellten sich, so Fritzsche, vor allem die Freiberufler. Doch auch Orchestermitglieder hätten oft Probleme damit, ohne konkrete Anforderungen ein spieltechnisches Niveau zu halten und einfach ins Blaue hinein zu üben. Dass der monatelange Leerlauf Musikerinnen und Musiker in eine allgemeine Lethargie treiben kann, ist aus Sicht der Musikermedizinerin Claudia Spahn sehr ernst zu nehmen. Dass mittelfristig die Qualität der Orchester sinkt, befürchtet sie jedoch nicht. „Wir sollten nicht einen gesamten Berufsstand pathologisieren, sondern auch Musikern zugestehen, dass sie Reaktionen auf die Pandemie zeigen.“ Mittlerweile sei es eben auch nicht mehr selbstverständlich, dass man überhaupt spielt – vielleicht freue man sich dann um so mehr über den Neustart.
„Jetzt wird schon wieder oft die Frage gestellt, ob die deutschen Orchester beim Neustart ihr früheres Niveau behalten hätten. Für die Ärztin und Musikerin Claudia Spahn sind solche Sorgen zweitrangig. „Vielleicht haben sie es gehalten, vielleicht aber auch nicht.“ Letzteres sollte man nicht als Katastrophe betrachten. Das würde den Druck aus dem System nehmen. Denn der ist es am Ende, der krank macht.