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Online-Musikunterricht

Ein Stück Normalität aufrechterhalten

In der Corona-Krise wird Online-Musikunterricht populär. Adäquater Ersatz für die Schüler oder Abschied ins WLAN-Nirvana?

vonHelge Birkelbach,

Lucy hat den Laptop ihres Vaters aufgebaut. Damit sie ihre Lehrerin gut sehen kann und die Perspektive stimmt, hat sie einen leeren Postkarton untendrunter gepackt. Rechts neben ihr steht das Notenpult, auf das sie die Partitur von Antonín Dvořáks „Cavatina“ aus den Miniaturen op. 75a gestellt hat. Die Geige hat sie gestimmt, jetzt kann es losgehen. Wegen Corona ist ihre Musikschule, das NOR59 Streichinstitut in Oslo, zwar geschlossen, aber die Lehrerin, die ihr Privatunterricht gibt, hat die Stunde ins Netz verlegt.

Über den Messenger von Facebook üben sie zusammen. „Wir machen das so, dass sie einen Teil des Stückes vorspielt und dann spiele ich nach“, erklärt Lucy. „Dann spielen wir einen nächsten Teil.“ Die Neunjährige will auf ihren Unterricht nicht verzichten. Die virtuelle Geigenstunde findet sie praktisch, denn so spart sie sich den Weg zur Schule, eine halbe Stunde hin und wieder zurück. Manchmal hapert es mit der Verständigung, wenn der Internet-Empfang schlecht ist. Aber mit dem Laptop gestaltet sich die Akustik in jedem Fall besser als mit dem Handy, mit dem sie bisher kommunizierte. „Meine Lehrerin sagte ‚d‘ und ich verstand ‚e‘! Das geht jetzt viel besser. Mit dem Handy auf dem Notenständer war es aber leichter, weil ich so auch gleichzeitig meine Lehrerin sehen konnte, ohne den Kopf zu drehen.“

Mehr Konzentration erforderlich

Seit eineinhalb Jahren spielt Lucy Geige und hat auch schon Konzerte gegeben, Hauskonzerte im privaten Kreis und zwei große Auftritte mit Orchester in der Kirche. Ein Leben ohne Musik kann sie sich nicht vorstellen. „Ohne Musik kann man nicht leben! In Filmen braucht man Musik um eine Stimmung zu erzeugen. Alle ‚Harry Potter‘-Filme brauchen Musik.“ Ihr Vater Reha Tugberk freut sich, dass die Tochter weiter üben kann und ihre Zeit trotz der widrigen Umstände sinnvoll nutzt. Er glaubt, dass diese Art von Unterricht durchaus neben einer normalen Stunde in der Musikschule bestehen kann. „An ihrem Spiel hat sich nach meinem Empfinden dadurch nichts geändert“, sagt er. „Mir ist jedoch aufgefallen, dass ein Videounterricht mehr Konzentration erfordert. Natürlich ist es etwas anderes, den Lehrer auf einem Bildschirm zu verfolgen, statt bei sich zu haben. Lucy braucht nach dem Unterricht eine gute Pause.“

Lucy beim Online-Unterricht in ihrem Zimmer
Lucy beim Online-Unterricht in ihrem Zimmer

Die Krise als Chance

Die Frage steht im Raum: Kann Online-Unterricht ein adäquater Ersatz für die traditionelle Lehrer-Schüler-Praxis sein? Oder verabschiedet sich die Seele der Musik per Datenstrom ins WLAN-Nirvana? Christian Rolf, Musikschulleiter in Hannover, gibt sich zuversichtlich: „Online-Unterricht, auch in seiner aktuell großteils improvisierten Form, hilft Schulen und Schülern, ein Stück Normalität aufrechtzuerhalten. Und er bedeutet für viele die Sicherung ihres Lebensunterhaltes.“ Als langjähriges Vorstandsmitglied im bdfm (Bundesverband der Freien Musikschulen e.V.) hat Rolf einen geübten Blick auf die sich gerade radikal ändernde Vermittlungspraxis. Und er kann der neuen Methode viel Gutes abgewinnen. „Die Vorteile liegen auf der Hand: Warum soll ein Schüler verschnupft zum Klavierunterricht kommen, wenn der Unterricht auch online möglich ist? Ergänzendes Lernmaterial in Form von Tutorials könnte den Schüler motivieren und mit Hintergrundwissen bereichern. Vielleicht bringt die Krise Ideen und Möglichkeiten hervor, die nachhaltig in den Musikschulalltag zum Einsatz kommen.“ Doch, so lenkt er ein: Bedenken und Sorgen seien durchaus berechtigt. Was ist mit dem Datenschutz? Was macht man mit dem Unterricht in der Gruppe? Ganz überzeugt scheint Rolf noch nicht zu sein: „Häufig bleibt vor, während und nach der Umstellung ein ungutes Gefühl zurück.“

„Vermeintliche Retter in der Not“

Ein ganz und gar ungutes Gefühl hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), was die derzeitige Situation für den gesamten schulischen Sektor bedeutet. In einer Meldung der dpa vom 13. April warnte GEW-Landeschefin Laura Pooth vor einer zu starken Fokussierung auf digitale Lösungen. „Plötzlich werden Online-Anbieter zum vermeintlichen Retter in der Not. Doch Lernen funktioniert in aller Regel nicht, wenn Kinder und Jugendliche isoliert am Bildschirm sitzen.“ Pooth betonte, es sei ein Trugschluss zu glauben, dass mehrere Wochen Unterricht durch Lernvideos vermittelt werden könnten. Viele Schülerinnen und Schüler seien auf den Austausch mit einer Lehrkraft vor Ort sowie den Austausch in der Klasse angewiesen. Wann die Schulen wieder öffnen, ist derzeit noch unklar. In den zuständigen Landesregierungen wird über ein stufenweises Öffnen verschiedener Klassenstufen ab dem 4. Mai beraten.

Seit 2014 online

Sopranistin Bettina Jensen unterrichtet seit 2014 online
Sopranistin Bettina Jensen unterrichtet seit 2014 online

Was sagt eine ausgebildete Sängerin zur Problematik physisch/nicht physisch? Bettina Jensen gibt seit 2014 Online-Unterricht. Am Anfang sei das wegen der rumpelnden Technik noch „gewöhnungsbedürftig und auch lustig“ gewesen. Bei Kommunikationsproblemen habe man sich mit Handzeichen beholfen, was in einer physischen Probensituation normalerweise unhöflich sei. Auch heute noch greift die in Berlin lebende Sopranistin zu diesem Mittel, wenn nichts anderes geht. „Ich stoppe den Gesang, indem ich meine Hand vor die Kamera halte wie ein Polizist, der den Verkehr anhält. Oder ich mache einfach nur mit dem Handgelenk kreisende Vorwärtsbewegungen, wenn geschleppt wird.“ Mit ihrem MacBook funktioniert die Übermittlung eigentlich ziemlich gut. Die Akustik sei aber immer noch ein Problem. „Feinheiten, die kleinen Abstufungen, das Filigrane, hört man beim Online-Unterricht nie so gut wie Face to Face. Deswegen nutze ich diese Form auch ausschließlich bei Studenten, die ich schon länger im normalen Unterricht hatte.“

Auch die Klavierbegleitung stelle eine Herausforderung dar. Die nicht vermeidbare zeitliche Verzögerung bei der Übertragung – so gering sie auch ausfallen möge – lasse es nicht zu, dass sie selbst die Klavierbegleitung übernimmt. Das Klavier müsse im Raum des Schülers stehen. Auch der Einsatz vom Band sei beim Üben „eher ungünstig, denn es fehlt die Flexibilität, damit die Studentin bzw. der Student sich ausprobieren kann. Tempo, Phrasierung etc. sind ja keine statischen Größen.“ Die aus Hamburg stammende Künstlerin, die an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ studierte, bezeichnet den Online-Unterricht als eine gute Ergänzung. So unterstützt sie beispielsweise eine professionelle Sängerin, die aus Kanada kommt. „Wenn sie in ihrer Heimat Montreal ist, nutzen wir Online-Unterricht. Es ist aber immer die Ausnahme, immer nur Ersatz.“

Auf der Bühne

Und wie geht die Sopranistin in der Krise mit ihrer eigenen Karriere um? Ihre nächsten Konzerte wurden alle abgesagt. Wenn ihr die Decke auf den Kopf fällt, sagt sie, gehe sie spontan mit ihrer Hündin Fiede spazieren. „Zuhause klappt es in der Partnerschaft bislang auch noch sehr gut“, scherzt sie, „aber die Probleme sind riesig; sowohl finanziell als auch psychisch ist es nicht einfach. Zur Zeit hoffe ich noch, dass der ‚Fidelio‘ Ende Mai in Kairo stattfindet, wo ich die Leonore singe.“ Wie Lucy aus Oslo braucht Jensen die Musik. Ihre beiden Herzen schlagen für ihr Instrument, ihre Stimme. Ohne die Bühne, sagt die Sopranistin, sei man isoliert – als Künstler genauso wie als Zuhörer. „In jeden Fall ist die Live-Aufführung das Erlebnis, für das wir Musiker leben und das das Publikum berührt.“

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