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Reportage Shanghai Symphony Orchestra

„Wir wollen das Vorbild sein“

In China entwickelt sich eine zunehmend lebendige Klassik-Szene – zu Besuch beim Shanghai Symphony Orchestra, das erstmals auf Tournee nach Deutschland kommt

vonJakob Buhre,

Der derzeit wichtigste Dirigent in China trägt Mundschutz und einen Helm. Es ist Anfang Dezember in Shanghai. Long Yu steht in einer Staubwolke neben Maxim Vengerov, im Untergeschoss des neuen Konzertsaals des Shanghai Symphony Orchestra, der im Herbst 2014 eröffnet werden soll. Die Bauarbeiten sind noch in vollem Gange – gerade entsteht eine komplexe  Podestkonstruktion – doch die dynamisch-kunstvolle Innenarchitektur des 1200 Zuschauer fassenden Großen Saales ist bereits erkennbar. 

Ein Maestro mit Bauhelm ist ein seltenes Bild, in diesem Fall aber durchaus von symbolischem Charakter. Denn die neue Konzerthalle in der Fuxing Road ist nicht sein einziges Großprojekt, im Grunde laboriert Yu an etwas noch Größerem: eine Klassik-Kultur in China nach westlichem Vorbild zu etablieren. 

Long Yu will eine lebendige Klassik-Szene aufbauen

Der 49-Jährige arbeitet dafür gleich an mehreren Orten, leitet das China Philharmonic Orchestra in Peking, das Guanzhou Symphony Orchestra und gründete 1997 das Beijing Music Festival. 2009 wurde er schließlich zum Chefdirigenten des Symphony Orchestra von Shanghai gewählt, seiner Heimatstadt. Bereits 1879 gegründet ist es das älteste Orchester Chinas – und es ist gerade dabei, sich zur modernsten Klassikinstitution des Landes zu entwickeln, wobei Yu eine entscheidende Rolle spielt. Studiert hat er in den 80er Jahren in Berlin an der Hochschule der Künste. Anschließend kehrte er in die Heimat zurück: „Damals gab es in China nur vereinzelt Klassik-Konzerte, es gab keine Konzertsaison, keine Reihen oder Festivals“, erinnert er sich. „Ich habe die letzten 15 Jahre daran gearbeitet, dass die Klassik in China eine Zukunft hat, ich habe das professionelle Orchestersystem hierher gebracht. Jetzt haben wir ein Saisonprogramm, wir holen internationale Künstler nach China, wir bauen ein Repertoire auf und ermutigen vor allem jungen Leute, Orchestermusiker zu werden. Diejenigen, die im Ausland studiert haben, versuchen wir zurückzuholen und ihnen bessere Möglichkeiten anzubieten.“

Seit seinem Antritt beim SSO erfolgten daher eine ganze Reihe von Maßnahmen: Neben dem vollen Saisonkalender gibt es ein mehrtägiges Sommerfestival, eine Kooperation mit den New Yorker Philharmonikern, ebenfalls wurde ein Outreach-Programm ins Leben gerufen, bei dem kleine Konzerte in Schulen und Universitäten organisiert werden. Nach Vorspielen in New York, Shanghai und Berlin wurde ein Drittel der Orchesterbesetzung ausgewechselt, zudem ist jeder Musiker für Kammerkonzerte verpflichtet. Auch ein Kartenabo existiert bereits, welches von etwa einem Viertel der Besucher in Anspruch genommen wird.

„Für einen Großteil unseres Publikums ist die Klassik zu einem neuen Hobby geworden“, erklärt Fedina Zhou, die Vizepräsidentin des SSO. Gleichzeitig räumt sie Schwierigkeiten bei der Umstrukturierung ein: „Wir waren früher eher wie eine staatliche Behörde organisiert, daran hat sich in den vergangenen fünf Jahren viel verändert. Allerdings gibt es hier für uns kein Modell, an dem wir uns orientieren können. Wir wollen jetzt selbst das Vorbild für andere Orchester in China sein.“ Finanziert wird das SSO zur einen Hälfte von staatlicher Seite, die andere kommt durch Kartenverkäufe und Gelder von Sponsoren zusammen, unter denen wiederum Firmen sind, an denen der Staat Anteile hält. Dass es um das Budget gut bestellt ist, lässt sich am Saisonprogramm ablesen, in dem sich viele große Namen wie Christoph Eschenbach, Sarah Chang und Yo-Yo Ma aneinanderreihen. 

Stars wie Lang Lang sorgen für einen Klassik-Boom

Wobei die internationale Ausrichtung auch der vielfältigen Metropole Shanghai sehr entgegen kommt. Wer einmal durch den Stadtteil der „französischen Konzession“ streift, trifft unterwegs zahlreiche Europäer und Amerikaner, die sich hier niedergelassen haben. Zudem erlebt China gerade einen Klassik-Boom. Insbesondere der Erfolg von Künstlern wie Lang Lang und Yundi Li hat viele Hoffnungen geweckt, bei Eltern, Musikmanagern und Plattenfirmen. Der Boom ist in Shanghai auch auf mancher Straße sichtbar. In der Nähe des Konservatoriums reihen sich Noten-, Geigen- und Klavierläden aneinander. Ein Geigenbauer berichtet, dass er 2013 etwa 600 Instrumente verkauft hat, rund sechs mal so viel wie noch vor zehn Jahren. 

Ein paar Häuser weiter sitzt Maxim Vengerov auf der Bühne einer Musikschule, wo er einen Meisterkurs gibt. Die Aula ist randvoll mit jungen Schülern, auch Eltern sind gekommen, ein 10-Jähriger spielt eine Wieniawski-Variation.

Der Ehrgeiz eines aufstrebenden Landes 

Long Yu freut sich angesichts des Nachwuchses, äußert aber auch Zweifel: „Es ist nicht immer richtige Motivation dahinter. Viele Eltern wollen, dass ihr Kind Klavier lernt, damit es der nächste Lang Lang wird. Das finde ich falsch, es geht nicht darum, ein Star zu werden, sondern viel wichtiger ist, dass sie Musikliebhaber werden, das ist unsere Zukunft.“ Auch er selbst mache sich nichts aus Ruhm oder Karriere, versichert Yu mehrfach. „Ich arbeite so hart daran, weil ich die Musik liebe und eine Verantwortung fühle für die Klassik in China.“ In Jeans und Wollpulli sitzt er im Innenhof jener Musikschule, die er als Teenager besuchte. Spontan hat er vorgeschlagen, das concerti-Interview draußen zu führen. 

Die „frische“ Luft ist in diesen Tagen in Shanghai jedoch nicht ungefährlich. Die Luftverschmutzungswerte sind im Dezember so hoch wie noch nie. Aufgrund des Smogs wirkt das populäre Panorama des Finanzbezirks Pudong wie hinter einer Milchglasscheibe, der ungesunde Nebeneffekt einer Wirtschaft, die auf Hochtouren läuft. Es wäre eigentlich ein Leichtes, in der aufstrebenden Entwicklung des Shanghai Symphony Orchestra eine Parallele zu sehen zu dem geballten Siegeswillen, mit dem die Volksrepublik auf die Weltmärkte strebt. 

In der Probe des Shanghai Symphony Orchestra 

Doch dann beginnt die Orchesterprobe, und man merkt ziemlich schnell, dass es hier um Kunst geht, nicht um Prestige oder Verkaufszahlen. Man erlebt einen lebendigen, bunten Klangkörper, Musiker aus verschiedenen Generationen und Nationen. Da ist kein Drill, keine übertriebene Disziplin zu hören. Der chinesische Schriftzug „Arbeitet hart, arbeitet zusammen“, der im Probensaal in der Hunan Road über einem Beethoven-Porträt prangt, scheint lediglich an vergangene Zeiten zu erinnern.

Long Yu arbeitet sehr präzise, bricht bei Ungenauigkeiten sofort ab, gibt Anweisungen mal auf Chinesisch, mal auf Englisch. Gerade werden die Bilder einer Ausstellung geprobt, bei denen er nach und nach die Farben deutlicher werden lässt. Immer wieder steigert er sich in die Partitur regelrecht hinein, wuchtet den Oberkörper vor und zurück – und doch vermeidet er das Pompöse, das Spektakel.

Und er scherzt viel mit seinen Musikern. Als Maxim Vengerov für Tschaikowskys Violinkonzert auf die Bühne kommt, bittet er ihn bei einer Cellopassage um einen Rat, und fügt hinzu: „Hier kann jeder seine Meinung sagen, da sind wir demokratisch.“ Großes Lachen im Raum. 

Vengerov zeigt sich nach der Probe angetan: „Ich finde es erstaunlich, was Long Yu macht. China ist ja bereits sehr reich an Musik, trotzdem gibt es das Bedürfnis, die westliche Kultur zu integrieren. Während man in Europa eher dazu tendiert, Orchester zu schließen, spüre ich in China einen großen Willen, etwas zu erreichen. Ich sehe hier Potential für die nächsten 50 Jahre.“

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