„Jede Idee braucht ihren Helden“, sagt Irina Kolesnikov. Hält dramaturgisch geschickt einen Moment inne – und fährt dann mit leuchtenden Augen fort: „Wir haben unseren Helden.“ Als Pressesprecherin des Permer Opernhauses muss sie natürlich Positives über ihren Chef sagen, doch die hübsche Russin meint ihre Worte tatsächlich ernst. Teodor Currentzis heißt der Held, ein neuer Taktstock-Guru in der Klassikszene, berühmt für seinen unbedingten Ausdruckswillen, nicht zuletzt in der allerorten gefeierten Mozart-Aufnahme des Da-Ponte-Zyklus – berüchtigt für seine nicht minder unerbittliche Arbeitswut, die ihn Passagen geradezu verbissen immer und immer wiederholen und mit seinen Musikern schon mal bis tief in die Nacht proben lässt.
Doch an diesem späten Vormittag zeigt sich der lange Schlaks mit dem bleichen, schmalen Gesicht entspannt. Plaudert und scherzt im Tschaikowsky-Theater mit den Musikern. Seinen Musikern des Ensembles MusicAeterna, die Currentzis mitgebracht hat, als der Dirigent 2011 nach Perm kam – zusätzlich zum städtischen Opernorchester.
Möglich gemacht hatte dies der damalige Gouverneur Sergej Tschirkunow: Es war die Zeit, als Dmitrij Medwedjew Präsident war, die Menschen von Innovation und Modernisierung sprachen und zumindest Teile des riesigen Landes vom Atem der Freiheit und des Aufbruchs erfasst waren. So auch in Perm, dem Tschirkunow eine neue Identität verpassen wollte: Aus der ehemaligen Rüstungshochburg am Ural sollte eine Kulturmetropole werden, ein Ort der Avantgarde. Ein Museum für moderne Kunst wurde in einem leer stehenden Flussbahnhof am Ufer der Kama gebaut, für das große Kunst- und Theaterfestival „Weiße Nächte von Perm“ wurden in Arbeiter- und Studentenwohnheimen provisorische Hotels eröffnet, die besten Architekten und Musiker eingeladen – „es war eine kulturelle Revolution, die nicht nur den Blick auf die, sondern auch in der Stadt verändert hat“, erinnert sich Operndirektor Marc de Mauny.
Putin stoppte den kulturellen Aufbruch
Eine Revolution, in deren Zuge auch Teodor Currentzis kam. Der hatte zuvor schon in Nowosibirsk für Aufsehen und -horchen gesorgt: Ein gebürtiger Grieche, der noch in die Dirigentenschmiede des legendären Ilja Musin gegangen und danach in Russland geblieben war, um dann in Sibirien wahre musikalische Wunder zu bewirken. War die Stadt im fernen Osten bis dahin allenfalls durch ihren Gulag-Terror bekannt gewesen, erklangen unter Currentzis Taktstock-Regentschaft nun von hier geradezu revolutionäre klassische Töne. Kein Wunder also, dass der kulturell so ambitionierte Gouverneur den Dirigenten unbedingt nach Perm holen wollte. In eine Stadt des Aufbruchs, deren Macher sich nicht nur vorgenommen hatten, die Kulturlandschaft der Provinz zu verändern, sondern auch der russischen Identität eine neue, andere Stärke zu verleihen.
Vergangenheit. Denn als Wladimir Putin erneut die Macht übernahm, drehte der Präsident das kulturelle Zeitrad wieder zurück. Tschirkunow verschwand aus dem Amt, statt Modernisierung ist das archaische Russland zurückgekehrt. Die zuvor üppigen Gelder für die Kultur sind gekürzt worden, auf dem avantgardistischen „Weiße Nächte“-Festival dominieren heute Trachten- und Volkstanzgruppen. Und wo einst die Kommunisten die Kirchen geplündert und entweiht hatten, werden nun mit üppigen staatlichen Geldern eben diesen Gebäude wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben: Der Präsident weiß nur zu gut um die stützende Bedeutung der Kirche.
Geblieben ist Currentzis. Ein Herrscher im hiesigen Reich der Musik, der sich zu inszenieren weiß und seine Aura pflegt: In der Öffentlichkeit stets in Schwarz gewandet, in oben weiten, unten engen Reiterhosen mit überlangen, offenen Fledermausärmeln, den Schmuckknopf im Ohr wohlplatziert. Eine Figur wie aus einem großen literarischen Epos, irgendwo zwischen Leo Tolstoi, Jean-Paul Sartre und Oscar Wilde, der den Menschen in Perm das Gefühl der Einzigartigkeit zu vermitteln vermag.
Fast jeder Wunsch wird Currentzis erfüllt
Eben ein Held – und die Russen lieben Helden, geben sie dem leidgeprüften Volk doch das Gefühl der Größe und Macht vergangener Tage zurück: Sei es ein Putin, der im Handstreich die Krim annektiert hat, seien es die Veteranen aus dem Großen Vaterländischen Krieg, deren Sieg vor mehreren Jahrzehnten immer wieder auch in Perm auf überlebensgroßen Plakaten, Fahnen und Gemälden gar nicht lang und oft genug gefeiert werden kann – oder eben ein Teodor Currentzis. Dem von Perfektion Besessenen ist hier denn auch (fast) jeder Wunsch erfüllt worden: Seine Musiker verdienen mehr als andernorts in Russland, seine eigene, luxuriöse Wohnstatt liegt in einer geschützten Siedlung, wohin er in einer schwarzen Limousine chauffiert wird – und wo, so munkelt man, rauschende Parties steigen sollen.
Offenbar ist es die Sehnsucht des Volkes nach vergangenen glor- und ruhmreichen Zeiten, die solch modernen Helden hier ihren Platz verschafft. Denn die Gegenwart ist eher trist und grau, marode sind in Perm nicht allein die schmutzigen Plattenbauten jenseits der historischen Schmuckstücke im Zentrum: Das Flughafengebäude erinnert bei der Landung an eine bessere Baracke, die Straßen in der Millionenstadt wie auch durch die endlosen Kiefern- und Birkenwälder sind geprägt von gewaltigen Schlaglöchern, der öffentliche Nahverkehr von andernorts ausgemusterten Bussen, die einem auf der holprigen Tour die skurrile Begegnung mit einem Hinweis auf Deutsch über der Fahrerkabine bescheren: „Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen“… Natürlich gibt es westliche Geschäfte und Luxusmarken im pompösen neuen Einkaufszentrum, doch herrscht hier Leere, während in den Supermärkten sich alte Mütterchen drängen und nach Grundnahrungsmitteln Ausschau halten. Bilder, die an die letzten Tage der DDR erinnern.
Lichtgestalt im Halbdunkel
In solch Grau(en)-Zonen des Lebens braucht es Lichtgestalten – auch wenn diese im Falle Currentzis bisweilen eher wie ein Fürst der Finsternis anmuten. Interviews gibt der Dirigent ungern, auch in Perm wird das Gespräch zahllose Male verschoben, am Ende gewährt der Fürst dann doch noch eine Audienz in seinem düsteren Ruheraum. Inmitten von massigen, dunklen Möbeln sitzt, ja liegt der Musiker da in einem Fauteuil, hingegossen, als habe ein El Greco Nick Cave porträtiert – und sinniert über Musik und Werte, über die täglichen Mühen und dass er irgendwann mit dem Dirigieren aufhören wolle. Imagepflege? Helden werden nicht geboren, sondern gemacht. Selten indes für ein ganzes Leben – auch nicht tief im russischen Nirgendwo an der äußersten Grenze Europas. Da kann es durchaus klug sein, von der Bühne abzutreten, solange die Welt dem Helden noch zu Füßen liegt.