Wie vor Jahrmillionen ist in Island die Erde an zahlreichen Stellen noch immer in Bewegung. Vulkane, Gletscher und Lavafelder mit unberechenbaren Rissen liegen ganz in der Nähe jener Orte, wo die Menschen ihrem gewöhnlichen Tagwerk nachgehen. Geysire schießen aus dem Boden, plötzlich riecht es nach Schwefel – selbst die Straße vom Flughafen hinein nach Reykjavík ist links und rechts gesäumt von weitläufigen schwarzen Lavafeldern. So gibt es denn auch kein Gespräch mit einem Isländer, das nicht früher oder später auf diese überwältigende Natur käme: „Wir leben nicht ohne Grund auf einem schmalen Streifen an den Küsten, denn im Landesinneren ist es einfach zu feindlich“, beschreibt die derzeit in New York weilende Komponistin Anna Thorvaldsdóttir die Grundstimmung unter ihren Landsleuten. „Und wenn du am Rande von etwas derart Mächtigem existierst, fühlst du erst, wie klein du bist.“ Die Natur gehört für die 39-Jährige denn auch zu den stärksten Inspirationsquellen überhaupt: Ihre Musik entstehe, indem sie zuhöre.
Am Anfang standen eine Domorgel und fünf Klaviere
Indes tönt längst nicht jedes Naturereignis auf der Vulkaninsel laut, heftig und abrupt. Manche Strukturen verändern sich unmerklich, in winzigen Nuancen wie etwa das einheimische Moos, das in einem geradezu surrealen Hellgrün in der weitgehend farblosen Landschaft aufleuchtet: Jahrhunderte braucht die zarte Pflanze, um sich wieder zu erholen, wenn sie einmal niedergetrampelt wurde. Reagiert haben die Isländer auf diese unkontrollierbaren Naturkräfte, indem sie zu einem Volk von Künstlern geworden sind. Eine nationale Eigenheit, die sehr treffend charakterisiert und ironisiert wird auf einer jener Postkarten, die auf Reykjavíks Haupteinkaufstraße Laugavegur zu finden sind: „Hallo! Ich bin: Krankenpfleger / Lehrerin / IT-Spezialist …“ ist da neben Kästchen zum Ankreuzen zu lesen – „…UND Musiker!“
Ja, grundsätzlich sei es seinen Landsleuten schon sehr wichtig, einen persönlichen Draht zu den Künsten zu haben, speziell zur Musik, bestätigt Pianist Víkingur Ólafsson bei Kaffee und Zimtschnecken im gemütlichen Coffeeshop „Tíu Dropar“: „Wir erwarten irgendwie voneinander, dass jeder eine kreative Seite in sich hat.“ Ohne die würde es den 330.000 Inselbewohnern während der kalten dunklen Monate südlich des Polarkreises wohl auch zu langweilig werden – wobei sich Experimentierfreude und Kreativität keineswegs auf Musik beschränken, wie die vielen individuellen Designerläden in Reykjavíks seit Jahren höchst angesagtem Zentrum beweisen. Gemeinhin wird der Mitteleuropäer allerdings mit isländischer Musik im ersten Moment nicht unbedingt Sinfonieorchester oder Klaviervirtuosen assoziieren, sondern eher Independent-Strömungen – Björk, Sigur Rós oder Of Monsters and Men. Und in der Tat haben Instrumentalensembles im Unterschied zu Chorgesang und Versrezitation noch keine wirklich lange Tradition auf der Insel: Ja, im Grunde begann der musikalische Aufbruch nach Europa erst mit dem Jahr 1916, als der spätere isländische Nationalkomponist Jón Leifs zum Klavier- und Kompositionsstudium nach Leipzig ging und für zwei Jahrzehnte (s)ein Land verließ, in dem es damals nicht mehr gab als „eine Domorgel, fünf Klaviere und drei Leute, die sie spielen konnten“, wie der Musikkritiker Volker Tarnow einmal trocken anmerkte.
Der Finanzkrise abgetrotzt: das Konzerthaus „Harpa“
Doch schon bald sollte sich dies wie im Zeitraffer ändern: Zwischen 1933 und 1945 kamen Musiker-Flüchtlinge aus Deutschland und Kontinentaleuropa nach Island und legten den Grundstock für ein hervorragendes Musikschulsystem. Die nächste Generation studierte bereits in den Metropolen der Neuen Musik, und seit 1950 existiert auch das „Sinfóníuhljómsveit Íslands“, das Isländische Sinfonieorchester – das seit Mai 2011 seine Heimstatt in einem der weltweit aufregendsten zeitgenössischen Konzertbauten gefunden hat. Trotz der Finanzkrise, die das kleine Land und mit ihm das geplante Konzerthaus „Harpa“ beinahe in den Abgrund gerissen hätte, als Ende 2008 alle drei großen Geschäftsbanken Islands zusammenbrachen und der begonnene Bau in halbfertigem Zustand einige Zeit vor sich hindämmerte. Doch zum Glück für alle Melomanen der Insel, die sich schon seit Generationen ein Konzerthaus für alle Musikstile gewünscht hatten, gingen die Arbeiten nach sechs Monaten ohne die bankrotten Banken allein mit öffentlichen Geldern weiter, so dass das „Harpa“-Projekt 2011 vollendet werden konnte – „Harpa“ ist übrigens zugleich ein weiblicher Vorname und isländisch für „Harfe“ sowie der Name jenes Monats im alten Kalender, in dem der sehnlichst erwartete Sommer begann. Und so spiegeln heute tagsüber die Waben der „Harpa“-Fenster, die den Formen einheimischer Basalt-Säulen nachgebildet sind, kongenial das Spiel von Sonnenlicht und Wasser des alten Hafens, während nachts die großartige Glasfassade des Lichtkünstlers Ólafur Elíasson vielfarbig angestrahlt wird. „Kalte Lagune“, „Nordlicht“, „Silberfels“ und „Feuerburg“ heißen die raffiniert beleuchtbaren Säle mit den durchbrochenen Wänden im Inneren, die je nach Wahl geheimnisvoll glimmen oder farbig auflodern können.
Ólafssons Festival für den Mittsommernachtstraum
Víkingur Ólafsson ist denn auch von Anfang an klar gewesen: Hier entsteht ein ganz besonderer Freiraum. Und so teilt sich der smarte Pianist, der an der Juilliard School studierte und heute international ein viel gefragter Solist ist, jene Zeit, in der er nicht die Konzertsäle dieser Welt bereist, seit einigen Jahren auf zwischen seiner Heimatstadt und Berlin: „Gerade im Winter wären Tourneen von hier aus einfach zu zeitaufwendig.“ Doch spätestens Mitte Juni, wenn die Sonne im Norden als Mitternachtssonne am Himmel steht und die Tage scheinbar unendlich lang und offen sind, will er wiederum sicher sein, dass keine ferne Konzertverpflichtung zwischen ihm und dem Eiland hoch im Norden steht. Ob er aus eben diesem Grund 2012 das Reykjavík Midsummer Festival gegründet habe? Víkingur lacht: „Auch deshalb. Aber es fehlte um diese Jahreszeit einfach etwas im ‚Harpa‘ und ich dachte, bevor hier jemand etwas macht, was mir nicht gefällt, mache ich etwas!“ Die Dinge selbst in die Hand nehmen: Auch das ist typisch isländisch. Die Hierarchien hier sind flach, Gesellschaft wie Bürokratie überschaubar: „Isländer fangen immer mit allem viel zu spät an. Wenn es dann aber wirklich überfällig ist loszulegen, glühen die Drähte und es läuft.“ Und da Víkingur nun einmal ein Perfektionist ist, bei dem jedes Stück einen dramaturgisch genau durchdachten Platz einnehmen soll, sind die vier Festivaltage alljährlich emotional wie intellektuell höchst anregend.
Dafür müssten dann aber wirklich alle hart arbeiten, bestätigt Sigrún Edvaldsdóttir, Konzertmeisterin des Iceland Symphony Orchestra, die seit Anbeginn dabei ist: „Víkingur holt mich aus meiner Komfortzone, indem er sagt, ‚Ich hätte wirklich gern, wenn Du dies und das spielst‘“, lacht die Geigerin. „Das sind dann Stücke wie Anthème II von Pierre Boulez oder György Ligetis Horntrio: echte Herausforderungen eben.“
„Will it fly or will it go to hell?“, umreißt Víkingur kurz und knapp jene Spannung, die ihn jedes Mal vor allem bei genreübergreifenden Experimenten wie Pictures at an(other) exhibition erfasst. Letzteres hatte er vergangenes Jahr mit Pétur Grétarsson, dem langjährigen Artistic Director des Reykjavík Jazz Festival, ersonnen, um gemeinsam mit isländischen Jazzgrößen dem Komponisten Modest Mussorgsky eine Hommage zu bereiten. Nun, es ist geflogen – und das Publikum blieb nicht nur der weißen Nächte wegen wach bis in die Morgenstunden.
Festivaltipp:
Myrkir Músíkdagar
26.-28.01.2017
darkmusicdays.is
Festival für zeitgenössische Musik (gegründet 2013)