Anna Katharina Hahns Roman erzählt von vier Frauen aus verschiedenen Generationen. Die pensionierte Lektorin Lena, die Studentin Sophie und die mitten im Berufsleben stehenden, ehemals besten Freundinnen Alice und Marie wären sich vermutlich nie begegnet, hätte sie ihre Freude am Singen nicht in einem Stuttgarter Frauenchor zusammengeführt. Was gemeinhin als die Stärke von Musikensembles gepriesen wird, nämlich Menschen verschiedenen Alters, aus allen Berufsgruppen und sozialen Schichten vereinen zu können, kehrt die Autorin ins Gegenteil: Durch die Chorzugehörigkeit der Protagonistinnen nehmen unheilvolle Dinge ihren Lauf, die sich sonst nie so ereignet hätten. Am Ende ist eine der vier gestorben, eine steht vor den Trümmern ihrer heilen Welt, eine hat sich komplett ausgeklinkt, um in Paris ein neues Leben zu beginnen, und die vierte stürzt sich in neue berufliche Herausforderungen.
Der Chor singt am Grab der Verstorbenen, doch von den Protagonistinnen gehört ihm keine mehr an. Auch eine fünfte Sängerin, die das Geschehen eher vom Rand her mitbestimmt und am Ende zur Schüsselfigur wird, verlässt die Stadt. Das kann man als Gleichnis verstehen: Wie die kleine Welt der Chorschwestern zerbröselt, so werden auch die Lebenswelten, in denen sich unsere westeuropäische Wohlstandsgesellschaft so behaglich eingerichtet hatte, durch die Pandemie, den Ukraine-Krieg und allenthalben erstarkenden Rechtsextremismus ins Wanken gebracht. Sollte am Ende nicht einmal die Musik mehr heilende Kraft entfalten können?
Der Chor
Anna Katharina Hahn
Suhrkamp, 283 Seiten
25 Euro