Streng genommen hat der immer wieder streitbare Christoph Türcke keine Philosophie der Musik komponiert, sondern einen profunden, ausholenden und interdisziplinären Mix aus Musiksemantik, Musikdefinition, Musikevolution und Kritik an Musikmythen. Wenn Türcke diese Schrift in fünf Akte nebst Ouvertüre und neun asymmetrisch verteilte Intermezzi gliedert, bedeutet das noch lange keine chronologische Abhandlung, selbst wenn Türcke bei der Urgeschichte und der akustischen Selbstbehauptung entwickelter Arten gegenüber dem Rauschen der Flora und der Tonproduktion von Kleintieren ansetzt. Türcke denkt auch in der Musik auf biologisch-physischer und zivilisationsgeschichtlicher Ebene evolutionär. Damit stößt er im Nietzsche-Wagner-Intermezzo den apollinisch-dionysischen Kunstdualismus vom Podest.
Bezüge zur altgriechischen Philosophie
Für Türcke handelt die Evolution nicht nach dem (subjektiven) Axiom der Schönheit, sondern ist vom Zweck der Selbstsicherung bestimmt. So zerstört er die Legende von Höhlengemälden mit Knochen-Perkussion als frühgeschichtliche Salongesellschaft. Im langen zweiten Teil folgt eine Phänomenologie der Musik aus dem Geist des europäischen Christentums und dem Anschub der Musik aus der hochmittelalterlichen Enttäuschung über die ausgebliebene Wiederkunft des Messias. Dabei bezieht sich Türcke zumeist auf die altgriechische Philosophie und Musik im mitteleuropäischen Kulturkreis. Beispiele aus den mediterranen und slawischen oder gar nahöstlichen Lebens- und Geistesräumen fehlen weitgehend. Besonders spannend sind alle jene Textteile, in denen Türcke in der großen Schnittstellenregion von Mehr-als-Geräusch, Noch-nicht-Musik und Sprache räsoniert.

Philosophie der Musik
Christoph Türcke
C.H. Beck, 510 Seiten
38 Euro