„Jesus Christ Superstar“, „Evita“, „Das Phantom der Oper“, „Cats“ – das sind Titel, die einem sofort einfallen, wenn man den Namen Andrew Lloyd Webber hört. Des Weiteren sind es Superlative des Erfolgs, die man mit dem ungekrönten König des Musicals verbindet: So wurde sein Welthit „Cats“ 21 Jahre am Londoner West End gespielt, und sein „Phantom der Oper“ spukt seit der Eröffnung des Majestic Theater am New Yorker Broadway im Jahr 1988 auf dessen Bühne herum. Weniger bekannt ist, dass der britische Komponist sich auch abseits des Musical-Mainstreams musikalisch betätigt hat und vor nunmehr vierzig Jahren ein Werk schrieb, mit dem er sich auffällig weit von seinem angestammten Genre entfernte.
In Gedenken an seinen 1982 verstorbenen Vater überraschte Webber die Musikwelt mit einem Requiem, das 1985 in der St. Thomas Church in New York uraufgeführt wurde – und das mit prominenter Besetzung. Die Gesangssolisten waren der Tenor Plácido Domingo, die Sopranistin Sarah Brightman (Webbers damalige Ehefrau) und der Knabensopran Paul Miles-Kingston. Eine inzwischen historische Aufnahme – die bis vor kurzem einzige des Requiems – dokumentiert diese Besetzung mit Lorin Maazel am Pult. Maazel war es auch, der das Requiem 2013 noch einmal auf seinem Anwesen im Rahmen des Castleton Festivals dirigierte. Ansonsten wurde es still um Webbers Requiem, von dem nur das „Piu Jesu“ ein Eigenleben entwickelte – in den britischen Pop-Charts sowie im sopranistischen Repertoire von Sissel Kyrkjebø bis Anna Netrebko.
Sakrale Musik jenseits des Kanons
Erst zu Andrew Lloyd Webbers 75. Geburtstag im letzten Jahr erklang das Requiem erneut vor Publikum – mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks, dem Münchner Rundfunkorchester und ausgewählten Gesangssolisten in der Münchner Herz-Jesu-Kirche. „Ich habe das Requiem von Webber vor vielen Jahren im Knabenchor gesungen und hatte es als sehr faszinierend in Erinnerung“, erzählt der junge Österreicher Patrick Hahn, der seit 2021 Erster Gastdirigent des Rundfunkorchesters ist. „Einerseits erkennt man den Musical-Komponisten darin wieder, andererseits arbeitet er auch mit klassischen Ansätzen. Diese Art Crossover – obwohl ich diesen Begriff nicht besonders mag – passt gut zur Mission unserer Reihe „Paradisi gloria“, Werke aufzuführen, die nicht unbedingt dem üblichen Kanon entsprechen.“
Ob Webber mit dem Requiem seinen Kritikern oder seinem Vater, der seinerzeit einer der führenden Kirchenmusiker Großbritanniens war, posthum beweisen wollte, dass er auch sogenannte ernste Musik schreiben kann? Hahn glaubt das nicht: „Auch wenn es Passagen gibt, die einem Vergleich mit ernsterer Musik standhalten können – wenn er etwa klassische Formen wie die Fugenform verwendet, die man in dieser Ausprägung in Musicals kaum vorfindet –, bleibt Webber seiner eigenen Tonsprache treu, die oft sehr liedhaft ist. Er versucht nicht, sich komplett neu zu erfinden, sondern überträgt die Mittel, die er für seine Musicals nutzt, in angemessener Weise auf diese Totenmesse. Somit kann man den zehn Sätzen seines Requiems auch sehr gut folgen.“
Ein freies Requiem ohne liturgische Zwänge
Dabei hält der Komponist allerdings einige Überraschungen parat. Da das Requiem im anglikanischen England seit der Reformation keine liturgische Funktion mehr erfüllt, konnte Webber bei der Gestaltung frei walten und schalten. Die Messetexte wurden umdisponiert, um ihre dramaturgische Wirkung zu erhöhen, Pop-Harmonik steht neben herben Dissonanzen, chromatischen Rückungen, klanglichen Schichtungen. Im „Dies irae“ führt ein treibender Beat zur Begegnung mit dem Jüngsten Gericht. Im „Lacrimosa“ weist uns eine Marschparodie den Weg in die Hölle, und an der burlesken Orgelfuge im „Offertorium“ hätte wohl auch ein Kurt Weill seine Freunde gehabt. Bewusste Distanzierungen vom sakralen Inhalt des Messetextes sieht Hahn darin nicht: „Das ist einfach seine Tonsprache, die er an entsprechenden Stellen auch in seinen Musicals verwendet, genau wie die für ein Requiem ungewöhnliche Instrumentierung mit Keyboards, viel Schlagwerk, einem relativ üppigen Bläsersatz, aber ohne hohe Streicher.“
„Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen“, sind die letzte Worte des Requiems, die der Knabensopran singend wiederholt, während er die Kirche verlässt. Das Sich-Entfernen der Stimme, ihre Auflösung im göttlichen Äther kann man auch auf der räumlich bestens eingefangenen CD-Aufnahme des Konzerts plastisch miterleben – bevor die Orgel mit brachialer Gewalt noch einmal das Höllentor öffnet. Hier zeigt Andrew Lloyd Webber sich so, wie wir ihn kennen: als gewiefter Bühnenkomponist, der sein Publikum vor allem mit großen Emotionen in seinen Bann zieht.
Webber: Requiem
Florian Markus & Henrik Brandstetter (Knabensopran), Soraya Mafi (Sopran), Benjamin Bruns (Tenor), Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchener Rundfunkorchester, Patrick Hahn (Leitung)
BR Klassik