Wie ist das eigentlich so, wenn Martha Argerich regelmäßig zu Besuch kommt? Sich ans heimische Klavier setzt und bis in die Nacht hinein die lieben Nachbarn beschallt? Anton Gerzenberg hat das erleben dürfen. Seine Mutter, die Pianistin Lilya Zilberstein, die seit vielen Jahren zusammen mit der „Tastenlöwin“ auftritt, sorgte schon früh für größtmöglichen pianistischen Input. „Martha kam immer, wenn sie in Hamburg war oder mit meiner Mutter Programme vorbereitete. Es war immer etwas Besonderes, wie ein Fest“, erinnert sich der 25-Jährige, der in eine Musikerfamilie geboren wurde: Sein Vater ist der Trompeter Alexander Gerzenberg.
Schon im Alter von vier Jahren begann Anton Gerzenberg, Klavier zu spielen. Mit seinem Bruder Daniel gründete er das Duo Gerzenberg und gab vierhändig oder an zwei Klavieren erste Konzerte. In der Kategorie „Klavierduo“ gewannen die beiden 2009 den ersten Preis beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. Ihr internationales Debüt feierten sie zusammen mit einer guten Bekannten: Martha Argerich lud die beiden zum Festival Progetto nach Lugano ein. „Martha ist ein äußerst charismatischer Mensch. Das habe ich schon früh gespürt, als sie uns zu Hause besuchte. Ihre Spielweise hat mich inspiriert, dieses Vorpreschende und Ungestüme. Und gleichzeitig das Fließende. Das gefiel mir sehr. Ihre Phrasierung ist einfach unglaublich! Es klingt immer richtig. Davon kann man eigentlich nur lernen.“
Studium bei Pierre-Laurent Aimard
Das Eruptive, Explosive hatte ihn schon als Kind fasziniert. Aber auf eine ganz andere Weise: „Ich hatte eine Dokumentation im Fernsehen gesehen. Anfang 1999 brach der Ätna aus, Lava strömte vom Vulkan herab. Viele Menschen haben ihre Häuser verloren. Es gibt Bilder, die ich als Kind zeichnete, und da waren Vulkane zu sehen. Noch bevor ich meinen Namen auf Russisch schreiben konnte, hat mich dieses Naturphänomen beeindruckt. Als ich später in der Schule das Fach Physik bekam und geologische Phänomene auf dem Lehrplan standen, tauchte das Thema Vulkane wieder auf. Und die Faszination war sofort wieder da. Mein Berufswunsch war damals tatsächlich, Vulkanologe zu werden.“
Es kam anders. Die Pianistin Julija Botchkovskaia nahm ihn als Jungstudenten an der Andreas Franke Akademie in ihre Obhut, er gewann Preise und trat bei Festivals wie dem Schleswig-Holstein Musik Festival und den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern auf. Seit 2016 studiert Gerzenberg bei Pierre-Laurent Aimard in Köln. „Er ist die erste Anlaufstelle für zeitgenössische Klaviermusik. Wegen ihm bin ich nach Köln gegangen. Ich wollte bei ihm lernen, wie man Stücke erarbeitet, die einem auf den ersten Blick nicht so offensichtlich erscheinen. Zum Beispiel Werke von Messiaen, Ligeti, Benjamin. Sie alle bedeuten für mich eine Befreiung von Körperlichkeit.“ Diese Musik verlässt die Schwere und Determiniertheit der dinglichen Welt. „Sie kann sehr komplex und schwierig sein, voller Sprünge, wie bei den seriellen Stücken von Stockhausen. Es ist egal, ob der nächste Ton drei Oktaven höher liegt oder tiefer oder sich nur einen Halbtonschritt nach oben bewegt: Es ist nur wichtig, dass der Ton da ist. Bei Chopin war ein Sprung noch gesanglich gedacht, die Stimme durfte sich gewissermaßen Zeit nehmen. Sie kann es rein physikalisch auch gar nicht anders.“
Aberwitzige Partituren
Und hier schlägt endgültig die Faszination des jungen Pianisten für sein Instrument durch. Was allein schon beim Betrachten einer Partitur aberwitzig erscheint, ist für ihn schlicht Ansporn. „Manche Sachen sind eigentlich unmöglich für den menschlichen Körper – für das Klavier allerdings nicht. Zum Beispiel ein Stück von Iannis Xenakis. Es heißt ,Herma, Musique Symbolique‘ und wurde 1961 komponiert. ,Herma‘ basiert kompositorisch auf Wahrscheinlichkeitsrechnung. Xenakis hat mathematische Prozesse aufgegriffen und Parameter geändert. Sehr anspruchsvoll, für die Konzentration wie auch für den Körper.“ Und wie spielt man so etwas, ohne sich zu verletzen? Für Gerzenberg ist die Frage gar nicht ungewöhnlich. Denn auch das lernt man in Köln. „Zackige Bewegungen sind absolut kontraproduktiv. Es muss fließen und rund sein. Wenn man nicht frei ist, dann verletzt man sich.“ Vielleicht spricht hier ein Junglöwe, noch ungestüm, jedoch wissend. Er hat noch viel vor sich.