Nur wenige haben vor dem 24. Februar 2022 wirklich an einen militärischen Überfall der Ukraine durch die Russen geglaubt. Nun verfolgt die westliche Welt schon seit sechs Monaten fassungslos die Schreckensmeldungen aus den umkämpften Gebieten, wobei der Zustand der globalen Lähmung – im Politischen wie im Privaten – sich langsam zu lösen beginnt. Darf man angesichts der Gräueltaten, die tagtäglich in der Ukraine verübt werden, dieses kaltblütigen und rücksichtlosen Angriffs auf die westliche Freiheit überhaupt noch ins Theater, in die Oper oder ins Konzert gehen? Ist Kulturkonsum angesichts des großen menschlichen Leids in der Ukraine nicht zynisch? Diese Frage stellten sich viele in den ersten Kriegswochen – und einige vielleicht sogar noch heute. Man muss sie aber entschieden verneinen. Denn es sind auch jene herrschaftsfreien Räume und Diskurse, vielfältigen Lebensentwürfe und demokratischen Werte, wie sie in künstlerischen Prozessen zutage treten, die eine freiheitliche Gesellschaft ausmachen und um derentwillen tausende Ukrainerinnen und Ukrainer täglich ihr Land verteidigen.
„Ich habe viele Verwandte und Freunde in der Ukraine. Diese Ungewissheit, das Entsetzen, die Empörung – da kommen so viele Gefühle zusammen. Es ist eine furchtbare Zeit – für alle Ukrainer“, sagt Olena Kushpler. Als künstlerische Leiterin und Organisatorin hat die ukrainisch-deutsche Pianistin mit Unterstützung von Elbphilharmonie, UDays und dem ukrainischen Konsulat ein musikalisch-literarisches Benefizkonzert auf die Beine gestellt, bei dem ausschließlich Werke von Komponisten und Autoren ihres Geburtslandes auf dem Programm stehen. Hierzulande eher unbekannte Komponistennamen wie Myroslav Skoryk, Oleksandr Opanasiuk und Igor Loboda sind da zu entdecken und mit ihnen kammermusikalische Schätze, die eine erlesene Schar von Musikerinnen und Musikern im großen Saal der Elbphilharmonie zum Funkeln bringt: Neben dem Karol Szymanowski Quartet, dem Geiger Virgil Boutellis-Taft, dem Tenor Oleksiy Palchykov und Tastentausendsassa Joja Wendt musste Kushpler auch ihre Schwester, die Mezzosopranistin Zoryana Kushpler nicht lange überreden, an diesem außergewöhnlichen Projekt teilzunehmen. Zusammen bringen die beiden die Seele ukrainischer Volkslieder in Bearbeitungen ihres Vaters Igor Kushpler zum Schwingen.
Und auch das Lesepult wird an diesem Abend zum Abstrahlpunkt künstlerischen Charismas: Die Schauspieler Iris Berben, Barbara Auer und Burghart Klaußner lesen Poesie und Prosa von Lina Kostenko und Serhij Zhadan, Autor Jurij Andruchowytsch liest ebenfalls in deutscher Übersetzung und Autorin Lyuba Yakimchuk in ihrer eigenen Landessprache.
„Es lässt sich erahnen, was für wunderbare Dichter und Schriftsteller wir haben“, sagt Kushpler, die auch die Literatur selbst ausgesucht und für die der Klang der ukrainischen Sprache viel mit Musik zu tun hat. „Wir wollen zeigen, wie unglaublich traditionsreich, vielfältig und wunderschön unsere Kultur ist. Und Spenden sammeln, um die Ukraine weiterhin so stark wie möglich zu unterstützen. Es gibt keine Alternative, als den Krieg zu gewinnen. Sonst wird ein ganzes Volk ausgelöscht – das darf einfach nicht passieren!“ Von den Erlösen der Veranstaltung und zusätzlichen Spenden sollen Krankenwagen erworben und direkt in die Kriegsgebiete transportiert werden.