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100. Geburtstag von Astor Piazzolla

Bordellreptil im Abokonzert

Zum 100. Geburtstag des Tangokönigs Astor Piazzolla.

vonFrank Armbruster,

Wenn hoffentlich in einigen Wochen oder Monaten wieder die Konzerthäuser geöffnet sind, wird landauf, landab auch die Musik von Astor Piazzolla erklingen. Am 11. März vor einhundert Jahren wurde der Komponist und Bandoneon-Virtuose als einziges Kind italienischstämmiger Eltern in der argentinischen Küstenstadt Mar del Plata geboren. Heute gilt er als wichtigster Protagonist des Tango Argentino, den er mit seinen Kompositionen salonfähig gemacht hat: Vor allem sein an Vivaldis berühmten Zyklus „Le quattro stagioni“ angelehntes „Las Cuatro Estaciones porteñas“ wird im Piazzolla-Jubiläumsjahr auch von Sinfonieorchestern aufs Programm gesetzt.

Ein Musiker der Unterwelt

Das ist keine Kleinigkeit für einen Musikstil, der angesichts seiner Entstehung in den anrüchigen Vierteln von Buenos Aires als „Bordellreptil“ geschmäht und vor allem von Anhängern der Hochkultur lange Zeit verachtet wurde. Auch Piazzolla selbst, dessen Tangoleidenschaft durch seinen Vater Vicente, genannt „Nonino“, geweckt wurde (Piazzolla komponierte später auf dessen Tod einen seiner berühmtesten Tangos, „Adios Nonino“), war seine musikalische Herkunft lange Zeit peinlich. Nach einigen Jahren als Musiker in diversen Tangoorchestern wollte er ein „seriöser“ Musiker werden und nahm privat Kompositionsunterricht bei Alberto Ginastera, dem wichtigsten argentinischen Komponisten seiner Zeit. Unter dessen Einfluss schrieb Piazzolla Anfang der fünfziger Jahre Kammermusik und Werke für Orchester wie die „Sinfonietta“, für die er den nationalen Kritikerpreis bekam.

Piazzolla galt in Argentinien als vielversprechendes Komponistentalent und erhielt schließlich ein Stipendium, um in Paris bei Nadia Boulanger zu studieren, einer der wichtigsten Lehrpersönlichkeiten der musikalischen Avantgarde, unter deren Schülern so berühmte Namen wie Aaron Copland oder George Gershwin waren. Piazzolla versuchte zunächst, seine Vergangenheit vor ihr zu verheimlichen. „In Wahrheit“, so bekannte er später, „schämte ich mich, ihr zu sagen, dass ich Tangomusiker war, dass ich in Bordellen und Kabaretts von Buenos Aires gearbeitet hatte. Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend. Es war die Unterwelt.“

Der echte Piazolla

Nadia Boulanger freilich begnügte sich nicht mit Piazzollas kompositionstechnischem Talent. Sie bemerkte in seinen Kompositionen die Einflüsse zeitgenössischer Komponisten wie Bartók oder Strawinsky, vermisste aber eine persönliche Handschrift. Instinktiv spürte sie, dass Piazzollas Herz für eine andere Art von Musik schlug und bat ihn schließlich, auf dem Klavier einen Tango zu spielen. Danach sagte sie ihm die Meinung: „Du Idiot! Merkst Du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? Du kannst die gesamte andere Musik fortschmeißen!“

Das nahm sich Piazzolla zu Herzen. 1955 kehrte er nach Argentinien zurück und gründete das „Octeto Buenos Aires“, eine Formation aus zwei Bandoneons, zwei Violinen, Bass, Cello, Klavier und E-Gitarre, mit der er den herkömmlichen Tango auf ein neues Level hob. Zwar blieben viele seiner Werke immer noch vom klassischen Tangorhythmus mit seiner 3-3-2 Aufteilung des 4/4 Takts geprägt. Doch vor allem harmonisch integrierte er Errungenschaften des Jazz und der neuen Musik, dazu wurde die Rhythmik komplexer, was viele traditionelle Tangoliebhaber vor den Kopf stieß.

Siegeszug des Tango Nuevo

Den Siegeszug des Tango Nuevo, wie Piazzollas Musik bald genannt wurde, konnten diese Vorbehalte freilich nicht aufhalten. Piazzollas Ruf als Tangoerneuerer wurde bald in die ganze Welt getragen, neben insgesamt über 300 Tangos komponierte er 1967 mit „María de Buenos Aires“ sogar eine Oper und arbeitete in den siebziger Jahren mit Jazzern wie Gerry Mulligan oder Gary Burton zusammen. Dazu schrieb er Soundtracks für Filme, machte Projekte mit Pina Bauschs Tanztheater und kooperierte mit berühmten Autoren wie Jorge Luis Borges oder Horacio Ferrer, der auch das Libretto zu dem musikalischen Drama mit Ballett „Los amantes de Buenos Aires“ verfasste.

Einen Höhepunkt erreichte Piazzollas Bekanntschaft 1981, als Grace Jones mit „I’ve Seen That Face Before“ seinen „Libertango“ in die internationalen Charts katapultierte.

Doch auch wenn Piazzolla im Bereich des Jazz und der in den achtziger Jahren aufkommenden Weltmusik hohe Anerkennung genoss, so blickten viele Vertreter der klassischen Musikszene lange Zeit skeptisch auf seine Werke. Seine eingängigen Melodien galten vielen als anachronistisch, tanzbare Rhythmen waren weithin verpönt. Erst das Engagement etablierter Klassikstars wie Gidon Kremer oder Yo-Yo Ma rückte Piazzollas Musik Anfang der neunziger Jahre allmählich auch in den Fokus der E-Musik. Heute zählen viele Werke Piazzollas zum Standardrepertoire. Dazu gehört die formidable „Tango Suite“ für zwei Gitarren und die „Histoire du Tango“ für Flöte und Gitarre, aber auch Werke wie eben die „Cuatro Estaciones porteñas“, die Piazzolla ursprünglich als Einzelstücke für sein aus Bandoneon, Violine, Bass, Klavier und E-Gitarre bestehendes Ensemble komponiert hat.

Ins Herz des Tangos

Die Bearbeitung für Orchester durch den Russen Leonid Desyatnikov hat Piazzolla nicht mehr erlebt: 1992 verstarb er mit 71 Jahren in Buenos Aires, nachdem er zwei Jahre zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte. Ob ihm das Arrangement, das seine Musik abokonzertkompatibel gemacht hat, gefallen hätte? Von der herben Melancholie des Originals ist in der Orchestrierung jedenfalls nicht mehr viel übriggeblieben. Auch tun sich viele klassisch ausgebildete Musiker mit dem spezifischen Ton des Tango nach wie vor schwer, verwechseln Emotion mit Sentimentalität. Piazzollas Musik ist da ähnlich gefährdet wie die von Tschaikowsky: Wer nicht aufpasst, ist leicht über die Kitschgrenze gerutscht.

Wie auch immer: Viele Piazzolla-Tangos wie „Oblivion“, „Libertango“ oder „Milonga del Angel“ sind längst als unsterbliche Klassiker der Musikgeschichte eingeschrieben, und wer Piazzollas Musik kennenlernen möchte, hört sich am besten dessen eigene Einspielungen seiner Werke an, wo der sanftscharf näselnde Ton seines Bandoneons den Hörer direkt hineinführt ins Herz des Tangos.

Astor Piazzolla – Adios Nonino (Teatro Colón, 1983)

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