Selbst bei so einer verhältnismäßig kurzen Geschichte wie „Die Kreutzersonate“ hat Lew Tolstoi so vieles in einem einzigen Werk vereint: ein Sittengemälde der seinerzeitigen russischen Gesellschaft, eine psychologische Analyse von Liebe und Missgunst, von Lust und Eifersucht – und einen packenden Thriller über einen ganz gewöhnlichen, psychisch stabilen Menschen, der dem Wahnsinn verfällt und zum Mörder wird. Die Rahmenhandlung spielt in einem Eisenbahnabteil. Dort halten sich die Reisenden nicht lange mit belanglosem Smalltalk auf, sondern kommen alsbald auf die Liebe zu sprechen und darauf, ob ohne sie überhaupt eine glückliche Ehe möglich wäre. Das verklärte, romantisierte Wunschdenken einer ketterauchenden Dame trifft dabei auf die patriarchalisch-frauenfeindlichen, antiquierten Ansichten eines älteren Kaufmanns.
Die Kreutzersonate: Von romantischer Liebe zum Eifersuchtsdrama
Posdnyschew jedoch, die Hauptfigur der Novelle, wird erst so richtig gesprächig, als schon die meisten Leute aus dem Zug ausgestiegen sind, und erzählt nun seine eigene Geschichte über die Liebe. Die begann mehr hedonistisch denn romantisch mit einer langen Phase sexueller Ausschweifung, ehe er mit dreißig Jahren beschloss zu heiraten. Die ersten Jahre der Ehe verliefen glücklich: Man liebte sich, man begehrte sich, man zeugte fünf Kinder. Nun ist auch die Gattin dreißig Jahre alt geworden und kann aus gesundheitlichen Gründen keinen weiteren Nachwuchs mehr zeugen.
Doch inzwischen kann der Ehegatte mit Sexualität, die nichts mit der Fortpflanzung zu tun hat, herzlich wenig anfangen, mehr noch: Sie erscheint ihm plötzlich vollends amoralisch. In dieser Krise findet Posdnyschews Ehefrau ihre persönliche Entfaltung im Klavierspiel. Posdnyschew wiederum wittert Ehebruch – erst recht, als er hört, wie die Gattin mit einem Geiger zusammen Beethovens „Kreutzersonate“ spielt. Rasend vor Eifersucht tötet er seine vermeintlich untreue Ehefrau, wird später jedoch freigesprochen vom Vorwurf des Mordes, da Posdnyschew aus Eifersucht gehandelt hat.