Wer als Kulturschaffender auf die Krise seiner Branche aufmerksam machen will, bewegt sich mitunter auf dünnem Eis – wie einige Schauspieler jüngst erleben mussten, als ihre sarkastische Video-Initiative #allesdichtmachen ein durchaus geteiltes Echo hervorrief.
Nun hat kürzlich das Calmus Ensemble aus Leipzig in puncto Corona seine Stimmen erhoben und das Projekt „Mosaik“ ins Netz gestellt. Vermutlich mit etwas weniger Reichweite als „Tatort“-Ermittlerinnen, dafür aber mit mehr Tiefe, Reflexion und Unterhaltungswert.
Die 41 Chor-Miniaturen für das Leipziger Vokalquintett wurden allesamt in der Corona-Zeit komponiert. „Wir haben uns im Sommer 2020 überlegt, wie wir uns musikalisch zu dieser Pandemie äußern könnten, woraufhin wir einige befreundete Komponisten und Veranstalter angeschrieben haben“, berichtet Ludwig Böhme, Bariton und Mitbegründer des Vokalquintetts. Und so landeten nach und nach vierzig Kompositionen im Postfach des Ensembles, aus ganz verschiedenen Himmels- und Stilrichtungen, von Choralgesang und Kanon über zeitgenössische Vokalstücke und Barbershop-Stil bis hin zu echten Popsongs.
Respekt, Sehnsucht und Humor
Robert Applebaum aus den USA etwa schrieb mit „Should I Be Feeling Grateful“ ein nachdenkliches Stück, das nicht nur die Atemnot bei Covid-19 thematisiert, sondern auch die des 2020 ermordeten George Floyd. Der Leipziger Steffen Schleiermacher vertonte Corona-Regeln in seiner „Verordnungsmusik“, während sich der Lübecker Carsten Borkowski für „Cartoon“ von einer Corona-Karikatur inspirieren ließ. Es geht um Respekt vor der Natur (Yang Jing: „The Wind is touching water“) und gegenüber Pflegekräften (Christopher Tarnow: „Große Freude“), um schmerzlich vermisste Konzerte, wie in in Esther Hilsbergs „Wir brauchen Musik“ – und um Distanzunterricht: Der frühere Calmus-Sänger Sebastian Schauer widmet sich in „Online-Kurs, Webinar“ mit viel Humor den ständigen Videokonferenzen, vom Ensemble sehr unterhaltsam als Videoclip umgesetzt.
Überhaupt merkt man den Sängerinnen und Sängern an, dass Corona ihnen nicht die Laune verdorben hat: „Das Schöne an so einer Gruppe ist, dass wir uns in Krisenzeiten gegenseitig stützen: Wenn der eine mal wieder durchhängt, kommen die anderen und machen Mut.“
Kreativer Umgang mit der Krise
Wie viele andere Chöre wurde auch das mit vielen Preisen ausgezeichnete Quintett von Corona kalt erwischt. Von den üblichen sechzig Konzerten im Jahr blieben 2020 nur eine Handvoll, Anträge auf Soforthilfen liefen zum Teil ins Leere: „Wir hatten zum Beispiel 2019 eine USA-Tournee mit hohen Einnahmen. Doch dies zählte nicht als Bemessungsgrundlage für Corona-Hilfen, weil es Einkünfte im Ausland sind.“
Doch fand das Ensemble schnell einen kreativen Umgang mit der Krise. „Als wir im März 2020 während der Probenarbeit erfuhren, dass das nächste Konzert nicht stattfinden kann, haben wir uns spontan mit einer Produktionsfirma und einem Tonmeister zusammengesetzt und unser Programm vom Probenraum aus ins Internet übertragen.“ Die über zwanzig Jahre hinweg gewachsene Calmus-Fangemeinde hörte dabei nicht nur zu, sondern zeigte sich auch mit zahlreichen Spenden erkenntlich, weshalb das Ensemble die Online-Konzerte als Reihe fortsetzte (nächster Termin: Pfingstsonntag 23.05.). „Wir haben in der Pandemie sehr viele Zuschriften und positives Feedback bekommen. Das hat uns motiviert und uns die Gewissheit gegeben: Wir haben als Künstler eine Relevanz.“ Dies erkannte nicht zuletzt auch die Bundeskulturstiftung, die das „Mosaik“-Projekt finanziell unterstützt hat.
Künstlerisch eindrucksvoll
Auf die Aktion #allesdichtmachen angesprochen, zeigt sich Ludwig Böhme hingegen wenig begeistert: „Natürlich darf Kunst verstören und provozieren, aber ich habe nicht verstanden, was die Schauspielerinnen und Schauspieler uns damit sagen, was sie damit bewirken wollten.“ Böhme selbst hat ebenfalls ein Chorstück zur Pandemie komponiert, bestehend aus exakt 802 Tönen, stellvertretend für jene 802 Todesfälle, die dem Robert Koch-Institut am 24.12.2020 gemeldet wurden. Gleichzeitig finden sich im „Mosaik“ aber auch heitere, völlig unbeschwerte Werke wie etwa „Lebensfreude“ von Harald Banter.
„Ich glaube, dass alle Beteiligten diese Pandemie ernst genommen haben. Sie haben nicht leichtfertig irgendetwas behauptet, sondern in ihren Kompositionen steckt viel geistige Arbeit und Reflektion. Das Mosaik sieht nicht nur das Schlechte dieser Krise, sondern auch viel Gutes, einige Kompositionen machen Hoffnung – und niemand ist despektierlich.“
So ist Calmus ein Beitrag zur Pandemie gelungen, der auf der einen Seite künstlerisch eindrucksvoll ist, auf der anderen Seite aber auch einen respektvollen Ton anschlägt, gegenüber Betroffenen des Virus als auch gegenüber jenen, die unter den Freiheitsbeschränkungen leiden. Ein Beitrag, den übrigens auch andere Ensembles ohne große Umwege interpretieren können: Die meisten der Komponistinnen und Komponisten haben ihre Partituren auf der Projektseite zum Download freigegeben.
Hier geht es zu den 41 Chor-Miniaturen des „Mosaiks“.
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Videoclip zu Sebastian Schauers Komposition „Online-Kurs, Webinar“: