Kann es ein digitaler Stream mit dem klassischen Live-Erlebnis aufnehmen? Auch an der Initiative „Opera Europa“, einem Zusammenschluss zahlreicher europäischer Opernhäuser, ist diese Frage nicht vorbeigegangen. In den letzten Tagen fand online die jährliche Herbstkonferenz unter dem Motto „Survival of the fittest“ statt. Gastgeber für das Panel „Das Verhältnis von Live-Erlebnis und Streaming“ war die Deutsche Oper am Rhein (DOR) in Düsseldorf. Am Beispiel von Viktor Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“, die im September an der Deutschen Oper Premiere feierte und derzeit als „Video on demand“ kostenlos auf operavision.eu abrufbar ist, wurde das Thema diskutiert.
Komisches streamt sich besser als Tragisches
Dass die DOR auf innovative digitale Angebote setzt, zeigt sich bereits durch Projekte wie „Das Digitale Foyer“, vorgestellt von Jens Breder, Leiter der Abteilung Marketing und Kommunikation. Doch innovative digitale Strategien sind in Corona-Zeiten vor allem auch vom künstlerischen Personal gefordert. Diskussionsleiterin Alexandra Stampler-Brown, Geschäftsführende Direktorin der DOR, fragt die Produktionsbeteiligten nach den Unterschieden zwischen Streaming- und Live-Performances: „Durch die plötzlich geltenden Corona-Schutzmaßnahmen mussten wir das komplette Konzept ändern“, erzählt Regisseurin Ilaria Lanzino, die „Der Kaiser von Atlantis“ inszenierte. „Die Kameras konnten wir dann bei der Inszenierung kaum berücksichtigen, da wir uns zu sehr auf die Einhaltung der Abstände auf der Bühne konzentrieren mussten.“
Lanzino sieht die Streaming-Möglichkeit zum einen als großen Vorteil, da so großartige Inszenierungen weltweit gesehen werden könnten, andererseits fehle diesen Aufnahmen das Rituelle, Kollektive, dass sich virtuell nicht reproduzieren lasse. Grundsätzlich funktioniere Streaming-Oper deshalb viel besser bei Komödien als bei tragischen Stoffen.
„Man spürt, dass man das Publikum braucht“
DOR-Ensemble-Sängerin Kimberley Boettger-Soller, die den Trommler in der Ullmann-Oper singt, habe versucht, die Kameras während der Vorstellung zu vergessen und sich auf das „echte“ Publikum im Saal zu konzentrieren: „Ich denke, es ist sehr wichtig, dass es auch ein reales Publikum gibt, wenn man eine Oper filmt. Denn das Publikum strahlt eine gewisse Energie aus, das tut die Kamera nicht.“
Gleicher Meinung ist der Filmemacher Oliver Becker, der die Aufzeichnung von „Der Kaiser von Atlantis“ leitete: „Man spürt sogar beim Filmen, dass man das Publikum braucht.“ Er gibt weiterhin Einblicke in die technischen Hintergründe und Abläufe einer Streaming-Produktion: „Im Gegensatz zum Live-Zuschauer sieht man im Video immer nur Ausschnitte, nie das große Ganze.“ Auch Licht und Ton seien nicht für die Kamera, sondern für das Live-Publikum eingerichtet. Deshalb müsse auch die Video-Produktion immer genau mit der Regie abgesprochen werden, denn auch der Stream müsse zur Oper passen.
Streaming muss überall funktionieren
Einen wichtigen Punkt in der Aktualität von Streaming-Angeboten sieht Luke O’Shaughnessy von der Streamingplattform OperaVision: „Wir wollen keine Bibliothek sein, in der die Streams über die Jahre verstauben, sondern ein Fenster bieten, das zeigt, was aktuell auf den großen Bühnen in Europa passiert.“ Dabei müssen auch sämtliche Gruppen unter den Rezipienten berücksichtigt werden, sowohl die Opernkenner als auch Neuinteressierte. Eine große Hilfe können dabei die Feedback-Möglichkeiten durch Online-Kommentare sein.
Wie und wo gestreamte Opern rezipiert werden sollten, ist ebenso ein entscheidender Punkt: Laut Oliver Becker gelte hierbei: je besser die Wiedergabetechnik, desto besser die Wirkung. Aber die Realität zeige, dass die Streams genauso gut unterwegs auf Smartphone und Tablet funktionieren müssten.
Die Zukunft des Streamings
Für die Zukunft wird das Streamen sicherlich weiterhin eine bedeutende Rolle spielen, auch nach Corona. Der Stream biete auf jeden Fall neue Möglichkeiten, dürfe die ursprüngliche Kunstform jedoch nicht ablösen und nicht erzwungen werden, sondern müsse zur jeweiligen Inszenierung passen, so Regisseurin Lanzino. Und Boettger-Soller verlangt dem Stream Innovation ab, um dem Zuschauer Perspektiven zu bieten, die er in der Live-Vorstellung nicht einnehmen kann, zum Beispiel durch Body-Kameras bei den Sängern. Wie sich all das langfristig auf die Veranstaltungshäuser auswirken mag, bleibt laut Jens Breder noch unvorhersehbar.