Da kannste nicht meckern. So klingt es, wenn Berliner maximales Lob aussprechen. Liegt es daran, dass wir in der Hauptstadt davon überzeugt sind, das Beste sei für uns gerade gut genug? Oder sind wir einfach zu verwöhnt? Als Klassik-Fan jedenfalls kann man sich keinen besseren Wohnort vorstellen. Das Angebot ist gigantisch, das Preisniveau im Vergleich zu anderen Metropolen niedrig, die Konkurrenz führt dazu, dass die Orchester und Opernhäuser viel wagen, um sich unverwechselbar zu machen. Was zu aufregenden Programmen führt.
Das Deutsche Symphonie-Orchester beispielsweise startet am letzten August-Wochenende unter dem Motto „Berlin braucht Musik“ in die neue Spielzeit, mit kostenlosen Freiluftkonzerten an diversen öffentlichen Plätzen. Auf ein Kinderkonzert mit Holsts „Planeten“ und einen Kammermusikabend im „Kühlhaus Berlin“ folgt am 17. September der „Symphonic Mob“, bei dem Chefdirigent Robin Ticciati in einer Shoppingmall am Potsdamer Platz Berlins größtes Spontanorchester leitet. Tags darauf dirigiert er dann Feldman, Strawinsky und Sibelius beim „Musikfest Berlin“, eine Woche später steht „The Wreckers“ auf dem Programm, die wichtigste Oper der britischen Komponistin Ethel Smyth, uraufgeführt 1906 in Leipzig.
Zack, das ist mal ein Saisonstart! Das Rundfunk-Sinfonieorchester kontert so: „Ais“ von Iannis Xenakis beim „Musikfest“, kombiniert von Chefdirigent Vladimir Jurowski mit Mahlers Fünfter und Bartóks erstem Violinkonzert (mit Vilde Frang), dann folgen Kammermusikprogramme der RSB-Mitglieder im ehemaligen Stummfilmkino „Delphi“ (bekannt als Drehort der TV-Serie „Babylon Berlin“) und im Seglerhaus am Wannsee, bevor in der neuen, multimedialen Konzertreihe „Mensch, Musik“ gesellschaftliche Fragen gestellt werden, zu Musik von Schostakowitsch, Kagel und Copland.
Drei Finnen erobern Berlin
Mut beweisen auch die Berliner Philharmoniker: Sie haben ein Festival zu „Kunst und Musik der 1950er- und 60er-Jahre“ programmiert, bei dem im Februar 2023 der Komponist György Ligeti im Mittelpunkt steht. Das passt, schließlich gehört auch ihr eigenes Stammhaus, also die Philharmonie des Architekten Hans Scharoun, zu den bedeutendsten Kunstwerken dieser Zeit. Chefdirigent Kirill Petrenko widmet sich Raritäten wie Erich Wolfgang Korngolds Fis-Dur-Sinfonie, er moderiert Kinderkonzerte und trägt seinen Teil zur großen Berliner Richard-Strauss-Sause bei, mit einer konzertanten „Die Frau ohne Schatten“. Szenisch wird Romeo Castellucci an der Staatsoper „Daphne“ zurichten, Tobias Kratzer startet mit „Arabella“ gleich einen ganzen Strauss-Zyklus an der Deutschen Oper.
Von den drei tollen jungen finnischen Maestri, die derzeit in der Klassikszene ganz heiß gehandelt werden, debütieren gleich zwei bei den Philharmonikern in der neuen Saison, Klaus Mäkelä nämlich, mit 26 Jahren designierter Amsterdamer Concertgebouw-Chef, und Santtu-Matias Rouvali. Tarmo Peltokoski, 22 Jahre jung, wird in Berlin sowohl beim RSB wie auch beim Konzerthausorchester zu Gast sein. Neugierig bin ich auch auf die Residenz der Sopranistin Fatma Said im Konzerthaus, besonders auf ihre musikalische Mittelmeer-Reise, bei der sie das Publikum mit Liedern und Orchesterwerken von den europäischen Anrainerländern bis in ihre ägyptische Heimat führen will.
Barrie Kosky bleibt der Komischen Oper erhalten
An der Komischen Oper hat sich Barrie Kosky nach zehn erfolgreichen Jahren als Intendant verabschiedet – aber er bleibt dem Haus treu, wird hier auch künftig zwei Inszenierungen pro Saison herausbringen: 2022/23 sind das „La Cage aux Folles“ und ein Kurt-Weill-Abend mit dem Titel „… und mit Morgen könnt ihr mich!“. Beides natürlich „Must-See“-Premieren!
Und auch die Pläne seiner Nachfolger – die Geschäftsführende Direktorin Susanne Moser und der Operndirektor Philip Bröking übernehmen als hausinterne Lösung – versprechen allesamt spannend zu werden: von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ über Herbert Fritschs Blick auf den „Fliegenden Holländer“ bis zu Kirill Serebrennikows „Così fan tutte“. Dirigentin Marie Jacquot und Regisseurin Nadja Loschky wagen sich an die „Hamlet“-Vertonung von Ambroise Thomas, Axel Ranisch bringt Händels „Saul“-Oratorium auf die Bühne, Max Hopp zwei Offenbach-Einakter – und Dagmar Manzel debütiert als Regisseurin bei Franz Wittenbrinks „Pippi Langstrumpf“. Wow!
Plattform für junge Dirigentinnen und Dirigenten
An der Staatsoper heißt es dagegen: Daumen drücken, dass der zuletzt gesundheitlich arg angeschlagene Daniel Barenboim den neuen „Ring des Nibelungen“ durchsteht, den er sich zum 80. Geburtstag schenkt. Innerhalb von acht Tagen will er im Oktober die vier Premieren rausfeuern. Intendant Matthias Schulz blick derweil in die Zukunft und hat fürs Repertoire 19 Dirigentinnen und Dirigenten der jüngeren Generation verpflichtet. Auf keinen Fall verpassen werde ich zwei Mozart-Premieren Unter den Linden, mit den hochgeschätzten Maestri Simon Rattle – er macht „Idomeneo“ – und Marc Minkowski – er hat sich „Mitridate“ ausgesucht.
Vom Saisonangebot 2022/23 der Deutschen Oper Berlin interessieren mich vor allem zwei Raritäten: Enrique Mazzola dirigiert eine konzertante „Herodiade“ – Jules Massenets Vertonung des Salome-Stoffs von 1881 –, prächtig besetzt mit Clémentine Margaine, Nicole Car, Matthew Polenzani und Etienne Dupuis, sowie Zandonais Verismo-Drama „Francesca da Rimini“, das im Lockdown nur als Stream herauskam und jetzt endlich vor Publikum gespielt wird.
Nicht nur die Hauptstadt hat etwas zu bieten
Spannendes tut sich im Umland: In Brandenburg an der Havel hat Alexander Busche die Intendanz übernommen, und er will die Möglichkeiten des ensemblelosen Stadttheaters voll ausreizen: mit einer Hommage an Fritzy Massary beispielsweise und einer an Liesl Karlstadt, mit einer brandneuen Operette aus der Feder von Tenor Daniel Behle und einem Emilie-Mayer-Konzertzyklus, bei dem die Brandenburger Symphoniker alle großen Orchesterwerke der 1812 geborenen Komponistin aufführen. Wenn das keinen Abstecher aus der Hauptstadt wert ist!
100 Kilometer südlich von Berlin wiederum wollen die Cellistin Marie-Elisabeth Hecker und der Pianist Martin Helmchen im kommenden Sommer ein neues Kammermusikfestival ins Leben rufen. Die „Drauschenmühle“ in Bohnsdorf, wo sie selbst leben, soll dann zum Künstlercampus werden, Konzerte sind überall in der Spreewald-Region geplant. Auch da will ich dabei sein.
Und welchen Grund zur (Vor-)Freude gibt es noch in Berlin? Dass immer häufiger Frauen vor den Orchestern stehen! An der Deutschen Oper ist seit der vergangenen Spielzeit Yi-Chen Lin als Kapellmeisterin engagiert, in der neuen Saison fängt Erina Yashima in derselben Position an der Komischen Oper an. Bereits seit 2019 fungiert Karina Canellakis als Erste Gastdirigentin des RSB – und das Konzerthausorchester hat sich Joana Mallwitz zur Chefdirigentin gewählt, ab Herbst 2023. Zuvor ist sie im November in Berlin schon mit dem Mahler Chamber Orchestra zu erleben. Aber auch die anderen großen Klassikinstitutionen der Hauptstadt öffnen sich zunehmend für Dirigentinnen: Die Berliner Philharmoniker haben Simone Young und Emmanuelle Haïm eingeladen, vier Frauen werden 2022/23 das Konzerthausorchester leiten, fünf sind beim DSO zu Gast, drei an der Staatsoper. Da kannste nicht meckern.