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Highlights der Saison 2022/2023 – Hessen

Musik für die feinen Vibrationen der Seele

Doris Kösterke schreibt als freie Journalistin für die FAZ und stellt ihre persönlichen Highlights der kommenden Saison in Hessen vor.

vonDoris Kösterke,

Wie bekommt man junge Menschen ins Konzert? Das von Felix Husmann vorgeschlagene „9-Euro-Kulturticket“ für Menschen unter 35 ist sicher einen Versuch wert. Aber altersgemäß Aufmüpfige fragen womöglich: „Kultur – wozu?“. Beim Sprechtheater wird eher klar, dass es mit eigenen Wünschen und Konflikten zu tun haben kann. Klassische Musik hingegen gilt unter kritischen jungen Menschen als Domäne von „cis-dudes“. Das ist (freilich hoffnungslos vereinfacht und überzeichnet) die Sorte Mensch, die an allem schuld ist, was in der Welt schief läuft. Die etwa Natur zerstört, um Geld zu machen, „diesseits“ („cis“) auch eines Gesellschaftssystems, an dem nicht zu Unrecht zürnende junge Menschen nur die Nachteile sehen. Der Spott über „cis-dudes“ kommt keineswegs nur von „weiblich Gelesenen“, sondern auch von „männlich Gelesenen“, die nicht in dieses Bild passen wollen: selbstherrlich männlich, mit Tunnelblick, ignorant gegenüber allem, was ihre Macht und ihr Ansehen nicht vergrößert.

Vermutlich können „cis-dudes“ auch „weiblich gelesen“ werden. Das „Feindbild“ ist unklar, hat mich jedoch bei der Auswahl meiner musikalischen Empfehlungen durchaus inspiriert: Dem funktionalisierten Frauenbild von „cis-dudes“, beispielsweise, huldigt fast jede Oper.

Wird zum Objekt eines sozialkritischen Musikprojekts: die Frankfurter Ernst-May-Siedlung
Wird zum Objekt eines sozialkritischen Musikprojekts: die Frankfurter Ernst-May-Siedlung

Jenseits des Mainstreams

Dem gegenüber empfehle ich das Kollektiv „Untere Reklamationsbehörde“ mit seinem „­empirischen Musiktheater“: Für ihr neues Stück nehmen Maria Huber, Julia Mihály und Tobias Hagedorn die Ernst-May-Siedlung in Frankfurt-Niederrad sozialkritisch unter die akustische Lupe. Der ­Premiere am 3. September ­folgen drei weitere Aufführungen zu verschiedenen Tageszeiten.

Ein Tipp für Musik jenseits von Mainstream, Hochglanz und Kommerz ist der „Höchste Schlossplatz 1“. Der Fotokünstler Jürgen Wiesner hat das 1591 erbaute Fachwerkhaus sensibel saniert. Von einem Verein unterstützt, lädt er hochkarätige Musiker ein, das Doppeltonnengewölbe zu bespielen. Am 3. September kommen Perkussionist Fritz Hauser und Geiger Paul Giger.

Ein Unikum sind auch die Otzberger Sommerkonzerte. Das Ehepaar Theis entdeckt die überwiegend jungen Musiker auf seinen vielen Reisen und lädt sie für eine Woche zu sich nach Hause ein. Wohl umsorgt erarbeiten die Kollegen, die sich zuvor oft gar nicht kannten, ein Kammermusikprogramm. In der einzigartigen Atmosphäre von Liebe und Idealismus entsteht bisweilen ganz Besonderes, für Zuhörer erlebbar am 3., 4., 17. und 18. September ab 17 Uhr auf der leicht identifizierbaren Hofreite in Zipfen.

Zerstreuung in traumatischen Lebenslagen

Seit Jahrzehnten würde ich gern mit Musik die Welt verbessern. Die zornige Jugend von heute ist mir also vom Prinzip her gar nicht so fern. Dabei teile ich mit Helmut Lachenmann das „Feindbild Entertainment“: In traumatischen Lebenslagen mag Zerstreuung angebracht sein. Aber vielleicht täte selbst da eine Musik wohler, die sammelt? Die bewusst macht, was im Leben zählt und wie man es gestalten kann?

Eines meiner Themen ist der „Komfort als Weltanschauung“, über den schon Arnold Schönberg gespottet hat: Mir scheint, als würden allzu viele Menschen den tieferen Sinn ihrer Berufstätigkeit niemals hinterfragen, aus Angst, sich keinen Komfort mehr leisten zu können. Lieber opfern sie ihre persönliche Integrität, ihre eigene Kritikfähigkeit, ihre Kreativität, ihre körperliche und geistige Gesundheit, um in einem Job zu funktionieren. Nicht von ungefähr boomt der Musikmarkt, um diese Lücken zu füllen. Musik hilft, für ein System zu funktionieren, das uns letztlich nicht gut tut? Das kann man doch nicht wollen! Schon gar nicht als junger Mensch.

Viele Kinder bekommen klassische Musik in die Wiege gelegt. Doch im Teenager-Alter wirkt es uncool, eine Sehnsucht nach dem zu entwickeln, das Kandinsky die „feinen Vibrationen der Seele“ nannte.

Wer bei seinem Nachwuchs entsprechende Antennen verspürt, sollte mit ihm zum diesjährigen Kronberg Festival fahren, wo am 24. September das neu erbaute Casals Forum eröffnet wird, akustisch auf Kammermusik zugeschnitten und zugleich mit Blick in die Natur. Um die Qualität zu ermessen, die dort geboten wird, braucht man möglicherweise viel Hörerfahrung. Doch gerade weniger Erfahrene haben oft ein erstaunlich sicheres intuitives Gefühl für überragende Stimmigkeit, während das Mittelmäßige oder das Routinierte sie abstößt.

Garant für sinfonische Hochkultur: hr-Sinfonieorchester
Garant für sinfonische Hochkultur: hr-Sinfonieorchester

Kultivierte Klangkörper

Routine erlebt man oft bei reisenden großen Stars und bei Dienstorchestern: kein Mensch kann ständig „alles geben“. Und doch gibt es hoch kultivierte Klangkörper wie das hr-Sinfonieorchester. Am 16. Dezember gibt es seiner bemerkenswerten Harfenistin Anne-Sophie Bertrand einen Rahmen. Jenseits der Dienstorchester wird Musik zur existenziellen Frage ohne Netz und doppelten Boden. Etwa beim Ensemble Modern. Es hat sich vor vierzig Jahren aus Protest gegen Kulturbetrieb und Gesellschaftsnormen gegründet und sich bis heute erfolgreich verweigert, in bestehende Verhältnisse hineinzualtern. Am liebsten würde ich in ausnahmslos jedes seiner Konzerte gehen, aus Offenheit um der Offenheit willen.

Für sein erstes Frankfurter Konzert der Spielzeit, „A House of Call“ von seinem langjährigen Weggefährten Heiner Goebbels, am 14. September in der Alten Oper, erweitert es sich zum Ensemble Modern Orchestra, dirigiert von Vimbayi Kaziboni.

Wenn junge Menschen in ein klassisches Konzert gehen, finden sie die meisten anderen drei- bis viermal so alt wie sich selbst. Das schafft kein spontanes Wohlbefinden. Bei der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) sind wenigstens die Menschen auf der Bühne noch jung. Ihr nächstes Konzert findet am 8. September im Theater Willy Praml statt. Die IEMA vermittelt nicht nur Handwerk, sondern auch kritisches Hinterfragen. „Kann eure Musik die Welt verbessern?“, fragte ich mal einen ihrer Absolventen, den Schlagzeuger Moritz Koch. Er antwortete mit „Auf jeden Fall!“: Allein, indem man zeigt, dass es auch ganz anders geht, als es gemeinhin gemacht wird.

Musik ist systemrelevant. Als der Überbau, der auf sehr abstrakte Art formt, wie wir denken.

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