Es soll ja Menschen geben, die im Herbst, wenn die Natur ihr grünes bzw. inzwischen schon buntes Kleid abwirft, unter melancholischen Anwandlungen leiden. Schon ein flüchtiger Blick in die prall gefüllten Spielpläne der gerade anlaufenden Opern- und Konzertsaison zeigt aber, dass die dritte Jahreszeit nicht nur die Vergänglichkeit sichtbar macht, sondern auch viel Neues, Hörens- und Sehenswertes zu bieten hat, für das man sich vielleicht schon jetzt einen Platz im Kalender reservieren sollte.
An der Staatsoper Hamburg überlässt man die erste Premiere der Saison dem Berliner Theater-Revoluzzer Frank Castorf, der mit Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ einen Staatsstreich in Form einer fulminanten Choroper inszeniert. Tief hinab in menschliche Abgründe führt auch Regisseur Dmitri Tcherniakov das Publikum mit Richard Strauss’ „Salome“. Asmik Grigorian in der Titelpartie verspricht Großes, wurde sie doch über Nacht zum Star, als sie bei den Salzburger Festspielen 2018 das Publikum mit ihrem Rollendebüt als Salome zu stehenden Ovationen hinriss und Regisseur Romeo Castellucci auf offener Bühne einen Kniefall vor ihr machte. Ein echtes Mammutprojekt stemmt die Staatsoper zum Ende der Spielzeit mit Olivier Messiaens einziger Oper „Saint François d’Assise“. Das viereinhalbstündige Vermächtnis des französischen Klangmystikers ist bei Generalmusikdirektor Kent Nagano in besten Händen: Mit Messiaen, der für ihn eine Art Vaterfigur war, kennt er sich aus wie kein Zweiter. Eine ganz besondere Perle bringt in dieser Saison auch der immer für beglückende Überraschungen gute spanische Regisseur Alfonso Romero Mora an der Hamburger Kammeroper im Allee Theater zum Glänzen: In einer deutschen Erstaufführung spinnt Saverio Mercadantes 1829 entstandene Oper „I due Figaro“ die Geschichte von Mozarts „Le nozze di Figaro“ weiter. Eine unerwartete Fortsetzung gab es auch für John Neumeier, weil sein Nachfolger Demis Volpi erst ab dem Sommer 2024 die Compagnie übernehmen kann. Die zusätzliche, 51. Saison als Ballettdirektor des Hamburg Ballett wird Neumeier mit einem selbst choreografierten „Epilog“ beenden – so der gegenwärtige Arbeitstitel.
Und was passiert in Hamburgs Vorzeigekonzerthäusern, der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle? Die „Opening Night“ des NDR Elbphilharmonie Orchesters und dem Geiger und diesjährigen Residenzkünstler Joshua Bell wird mit Igor Strawinskys durch Mark und Bein gehenden Bühnenritus „Le Sacre du printemps“ und der Uraufführung der Gemeinschaftskomposition „The Elements“ zu einem beherzten Vorstoß ins Elementare.
Nicht kleckern, sondern klotzen
Auch die Symphoniker Hamburg möchten zur Saisoneröffnung nicht kleckern, sondern klotzen und setzen zusammen mit der Europa Chor Akademie Görlitz Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“ aufs Programm, während im März und April der Monteverdi Choir unter Sir John Eliot Gardiner mit Händels „Isreal in Egypt“ und Les Musiciens du Louvre mit Händels „La Resurrezione“ weiteres Oratorienglück versprechen.
Das SWR Symphonieorchester und sein Chefdirigent Teodor Currentzis rücken an, um mit Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 13 eine erschütternde musikalische Anklage aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu formulieren, und werden im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg im Juni 2024 auch mit Brittens „War Requiem“ vor Ort sein. György Kurtágs erste und einzige Oper „Fin de partie“ nach Samuel Becketts gleichnamigem Drama – komponiert mit 91 Jahren und uraufgeführt 2018 in der Mailänder Scala – erlebt im Großen Saal der Elbphilharmonie mit dem Danubia Orchestra unter Markus Stenz eine halbszenische Aufführung. Und das Ensemble Resonanz übernimmt mit Matthew Herberts „The Horse“ einen echten Knochenjob: Der britische Experimentalmusiker erstellte seine rastlos-rituelle Soundcollage auf Grundlage eines Pferdeskeletts.
Spätes Debüt in der Elbphilharmonie
Eine alles andere als fleischlose Interpretation darf das Publikum erwarten, wenn sich das Philadelphia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin gemeinsam mit Tasten-Gott Daniil Trifonov Rachmaninows viertes Klavierkonzert vornimmt. Von diesem Pianisten sagt man, er könne alles. Aber Rachmaninow besonders gut. Ebenfalls nicht vergessen sollte man den französischen Countertenor-Star Philippe Jaroussky, der mit seinem neuen Programm an viele „Forgotten Arias“ erinnert. Der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor stemmt zum 25-jährigen Jubiläum Verdis „Messa da Requiem“, das weltweit gefeierte Juilliard String Quartet feiert sein Debüt in der Elbphilharmonie, und Bachs „Goldberg-Variationen“ kann man wahlweise auf dem Klavier (Víkingur Ólafsson) oder Cembalo (Jean Rondeau) erleben. Außerdem tauchen die Klangkörper des NDR mit acht Konzerten in den „Kosmos Bartók“ ein und erhalten Unterstützung unter anderem vom Jerusalem Quartet und Pianist Igor Levit.
Klavierliebhaber haben in dieser Saison ohnehin keinen Grund, sich zu beklagen: Für Soloabende angemeldet haben sich András Schiff (10.1.), Jewgenij Kissin (9.2.), Grigory Sokolov (17.4.), Mikhail Pletnev (15.5.), und auch der große Erneuerer des klassischen Jazz, Brad Mehldau, schaut am 15. Mai mit seinem Trio in der Elphi vorbei.
Fünf Konzerte geben dort auch Einblicke in das Schaffen der britischen Komponistin Rebecca Saunders, und das französische Quatuor Diotima labt sich am 13. März mit Luigi Nonos „Fragment – Stille, An Diotima“ ebenfalls an den saftigen Weiden der Neuen Musik. Hohe Erwartungen sind verknüpft mit dem Auftritt der jungen spanischen, allerorts gefeierten Geigerin María Dueñas, wenn sie mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Kazuki Yamada Beethovens Violinkonzert anstimmt, bevor Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ den Blick auf die unbegrenzten Möglichkeiten des Orchesterklangs freilegt. „Geballte Klangmacht“ versprechen derweil das NDR Elbphilharmonie Orchester und Semyon Bychkov, wenn sie gemeinsam mit vier Chören und acht Gesangssolisten am 11. April Mahlers „Sinfonie der Tausend“ auf das Podium heben.
Blick in die Mülltonnen unserer Gesellschaft
Musikalische Höhepunkte im Norden bietet aber bei weitem nicht nur die Stadt Hamburg. Am Mecklenburgischen Staatstheater blickt das dokumentarische Musiktheater „Stoff“ von Konstantia Gourzi mit einer Uraufführung in die Mülltonnen unserer Gesellschaft, und auch die Tanzsparte macht neugierig: Beim dreiteiligen Ballettabend „Bach – Past, Present & Future“ mit Choreografien von Xenia Wiest und Jonathan dos Santos dreht sich alles um das Œuvre Bachs, während dessen Musik auf eine Auftragskomposition des klassischen Pianisten, Komponisten und Elektrotüftlers Francesco Tristano trifft. Und wenn im März die Strawinsky-Ballette „Petruschka“ und „Der Feuervogel“ im Doppelpack erscheinen, sollte man auch hier beherzt zugreifen.
Das Kieler Theater lockt derweil mit Camille Saint-Saëns’ Freiheitskämpferoper „Samson und Dalila“ in der Ausdeutung des deutsch-türkischen Regisseurs Immo Karaman. Im November wirft Hausherr Daniel Karasek einen zeitgemäßen Blick auf Leonard Bernsteins „West Side Story“, und auch die „Falstaff“-Inszenierung der jungen Regisseurin Luise Kautz dürfte für Gesprächsstoff sorgen. In Lübeck setzt man dagegen auf große Namen: Brigitte Fassbaender hievt hier Richard Strauss’ gewaltig tönende Racheorgie „Elektra“ auf die Bühnenbretter, und Puccinis „La Bohème“ sehen wir durch die inszena-torische Brille von Sopranistin Angela Denoke, die in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren eine Schlüsselfigur des Opern-Regietheaters war und sich seit einigen Jahren selbst im Regiefach tummelt. Nicht zuletzt dürfte sich auch eine Reise nach Rostock lohnen. Am Volkstheater fragt Hausregisseur Rainer Holzapfel mit einer eigenen Fassung von Glucks „Orpheus und Eurydike“, die auch die Tanzsparte miteinschließt, ob die Götter es mit den Menschen wirklich ehrlich meinen.