Dass Wissen über viele Jahre verloren gehen kann, ist eine mittlerweile weitverbreitete Erkenntnis. Nicht einmal das geschrieben Wort ist vor dem Vergessen sicher, tauchen doch immer wieder Schriften, Manuskripte und Drucke auf, die jahrhundertelang ein verborgenes Dasein fristeten. Auch die Musikwelt kann ein Lied von verschollenen, vergessenen und heute unbekannten Werken singen, dessen einstige Existenz lediglich aus Briefen bekannt ist. Um diese Kompositionen der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen, forscht die Musikwissenschaft weltweit und belegen dabei gelegentlich die Existenz heute gänzlich unbekannter Tonschöpfer. Schnell rufen diese Sensationsfunde Fachpresse und das Feuilleton auf den Plan – zu groß ist schlicht das Interesse an den vermeintlich vergessenen und schließlich doch wieder aufgetauchten Kulturrepräsentanten.
Wiederentdeckte Meister?
Wahre Sensationsfunde der Musikwissenschaft waren der 1882 wiederentdeckte italienische Komponist Guglielmo Baldini, der circa um 1540 im italienischen Ferrara geboren wurde und sich zeitlebens intensiv mit Madrigalkompositionen beschäftigte. Auch der 1870 in München geborene und 1933 in Zürich verstorbene Sinfoniker und Musikethnologe Otto Jägermeier, dessen Werke jedoch 2009 beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln größtenteils zerstört wurden, zählt zu den wiederentdeckten Meistern der Klassik. Ebenso der immer noch wenig bekannte jüngste Bach-Sohn P. D. Q. Bach, dessen Musik die „Originalität von Johann Christian“, die „Arroganz von Carl Philipp Emanuel“ und die „Tiefgründigkeit von Johann Christoph Friedrich“ aufweist.
Fast zu schön um wahr zu sein, sind diese Wiederentdeckungen der in Vergessenheit geratener Meister. Der Haken an dieser Geschichte ist nur, dass allesamt frei erfunden sind. Nicht einen dieser Tonschöpfer hat es jemals gegeben. Amüsant ist zudem, dass die Liste dieser erfundenen Meister vermutlich noch viel länger ist, nur dass es eben bisher niemandem aufgefallen ist. Sogar CD-Einspielungen und Biographien sind auf dem Tonträger- beziehungsweise Buchmarkt verfügbar und sorgen für neuen Stoff rund um die angeblich wiederentdeckten, verschollen geglaubten Meister.
Eine etwas andere Tradition
Der Kreis dieser Legenden schließt sich im geschrieben Wort, schließlich ist nicht alles haargenau so, wie es sprichwörtlich im Buche steht. Dennoch fallen immer wieder – zum Teil auch renommierte Wissenschaftler – auf den Schwindel ihrer eigenen Kollegen rein. Denn Ausgangspunkt dieser teilweise täuschend echten Lebensläufe, Werkübersichten samt fingierten Werkeverzeichnissen und angeblich authentischen Kompositionen sind humorvolle Musikwissenschaftler, die sich, vom Schalk gepackt, an einer mittlerweile langanhaltenden „Tradition“ von fingierten Lexikonartikeln beteiligen.
Den Schalk im Nacken bei Komponisten
Schon in der ersten Ausgabe des renommierten Riemann Musiklexikons von 1882 sind Artikel zu Komponisten enthalten die es niemals gegeben hat. Später fanden diese Namen auch ihren Weg in andere Standardwerke wie dem „Grove Dictionary of Music and Musicians“ und „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, was die List für arglose Leser noch authentischer werden ließ und die Identifizierung merklich erschwerte. Einzig die Urheber der Täuschungen lachten sich heimlich ins Fäustchen, vor allem dann wenn ihre Kollegen und nichtsahnende Studenten aus ihren haltlosen Artikeln zitierten.
Gleichwohl wurden in späteren Neuauflagen entsprechende Texte – von offensichtlich weniger verschmitzten Kollegen – entfernt, so ist ein Zitat von dem renommierten Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus überliefert, der während der Arbeit an der Neuausgabe des Riemann Lexikons seine Kollegen warnte: „Mit mir können sie das nicht machen. Ich werde jeden einzelnen Artikel selbst Korrektur lesen.“
„Konzert für Fagott gegen Orchester“
Bei der Legendenbildung sind der Kreativität im Gegensatz zum strengen Wissenschaftsalltag keine Grenzen gesetzt. So werden dem angeblichen Otto Jägermeier bedeutende symphonische Dichtungen wie „Titanenschlacht“, „Meerestiefe“ und „Im Urwald“ zugeschrieben und dem jüngsten Bach-Sprössling eine schwere Kindheit ohne Musikunterricht angedichtet. So plausibel die Geschichten auch klingen mögen, handelt es sich um nichts mehr als liebevolle wissenschaftliche Scherze. Es ist also Vorsicht geboten, wenn es heißt „Konzert für Fagott gegen Orchester“ und „Sonate für Bratsche zu vier Händen“.
Angeblich von P. D. Q. Bach komponiert: