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#kulturgutknabenchor: Zur kritischen Situation der deutschen Knabenchöre

„Wir stehen vor einer großen Katastrophe“

Die deutschen Knabenchöre kämpfen ums nackte Überleben – und das ist in keiner Weise übertrieben.

vonChristian Schmidt,

Es klingt nicht nur wie ein Hilferuf, es ist auch einer. „Viva la musica“ erklingt seit Kurzem aus hunderten Jungenkehlen unter dem Hashtag #kulturgutknabenchor im Internet, und der Eindruck einer Beschwörungsformel ist kaum von der Hand zu weisen. 46 Knabenchöre haben sich auf YouTube verabredet, den berühmten Kanon um fünf vor zwölf zu singen, dabei stehen die Zeiger eigentlich schon beide im Zenit der Uhr. In einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung nimmt Rosemarie Pritzkat, Leiterin des Hamburger Knabenchors, kein Blatt vor den Mund: „Wir stehen vor einer großen Katastrophe.“

Denn Opfer der Corona-Krise sind die Knabenchöre in ganz besonderer Weise: Die kontinuierliche Ausbildungsstrategie der Knabenchöre ist in Gefahr, und dadurch sind sie es selbst auch. Können sie nicht in die Schulen auf Nachwuchssuche gehen, brechen ganze Generationen weg. Dabei ist die Akquise schon unter normalen Voraussetzungen schwierig. Der Stimmbruch, der unter normalen Bedingungen für einen stetigen Generationswechsel sorgt, erweist sich nun als größtes Problem: „Wenn keine jungen Sänger nachkommen und die alten in die Mutation gehen, muss man am Ende den Knabenchor völlig neu aufbauen und das Repertoire komplett neu einstudieren“, sagt Pritzkat. Üblicherweise zögen die Großen die Kleinen mit und gewöhnten sie ein. Das sei nun nicht mehr möglich. Dazu komme der wichtige soziale Aspekt der Vorbildwirkung und Familiarität, die dadurch entsteht.

Ein konkrete Perspektive muss her

Hierzu muss man wissen, dass Knabenchöre nicht nur einen ganz eigenen Klang und eine besondere Anziehungskraft für ihr Publikum haben, auch wenn das die Verfechter ideologisierter Geschlechtergerechtigkeit abstreiten, sondern vor allem eine ganz eigene innere Bindekraft. Erst im Knabenchor trauen sich viele Jungen das Singen wirklich zu. Können sie nun nicht einmal mehr proben, zusammen essen, sich im Chorgefüge treffen, leidet nicht nur die musikalische Qualität, sondern brechen auch Rituale und Freundschaften zusammen. Damit steht nicht allein das Kulturgut Knabenchor auf dem Spiel, sondern auch ein großer Teil jugendlicher Musizierlust.

Der Hilferuf der Knabenchöre – angeführt von den Augsburger Domsingknaben, den Regensburger Domspatzen, dem Tölzer und dem Windsbacher Knabenchor – richtet sich an die politische Entscheidungsebene und an das Publikum gleichermaßen. Sind die einen gefordert, einen klaren Zeitplan oder wenigstens eine konkrete Perspektive zu bieten und über Probenkonzepte noch einmal neu nachzudenken, erhoffen sich die Initiatoren von ihren Zuhörern mahnende Erinnerung und in gewisser Weise damit auch eine Art Lobby. Ob die sich dann konzertiert für die in Gefahr schwebende Kultur einsetzt, darf man zwar bezweifeln, „aber Jammern allein nützt ja nichts, wir müssen mutig und laut bleiben“, sagt Rosemarie Pritzkat kämpferisch.

Einstimmung auf magere Haushaltsjahre

Vieles wird nun auch davon abhängen, wie lange der zweite Lockdown dauert, ob und in welcher Form danach Proben und Einzelunterrichte möglich sein werden. Selbstverständlich darf man auch die Frage stellen, wer sich unter solch unklaren Voraussetzungen überhaupt noch aktiv zum Mitsingen bewerben möchte, wenn gar nicht klar ist, ob die Chöre auftreten, auf Reisen gehen oder im Extremfall überhaupt weiterhin existieren können.

Dabei spielt im Übrigen kaum eine Rolle, auf welcher wirtschaftlichen Basis sie stehen: Finanzieren sie ihr hohes Ausbildungsniveau wie in Hamburg von den Mitgliedsbeiträgen der Familien, erreicht sie das Problem nur eher als die großen Internatschöre. Die leben zwar zum großen Teil von der öffentlichen Hand, müssen aber desto mehr um ihre Legitimation bangen, wenn im Zuge der jetzt schon hörbaren Einstimmung auf „magere Haushaltsjahre“ die freiwilligen Kulturaufgaben auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei wird in der Politik, die in Sonntagsreden so gern die Wichtigkeit der Kultur- und Bildungsinstitution Knabenchor betont, niemand mit offenem Visier ihre Schließung fordern. Aber wenn die Mitgliederzahlen implodieren, könnte der mittelfristige Einspareffekt insgeheim nicht unwillkommen sein.

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