Wer noch immer glaubt, Neue Musik gedeihe im Elfenbeinturm, hat die letzten zwanzig Jahre verschlafen. Längst setzt sich das Komponieren in vielfältigen Formen mit den Krisen und Herausforderungen unserer Zeit auseinander. Heute mehr denn je. Bestes Beispiel: Der Monat der zeitgenössischen Musik Berlin, jeweils im September, mittlerweile im sechsten Jahrgang. Das Ganze ist eine eindrucksvolle Bündelung von Initiativen vor allem aus der freien Szene mit zahlreichen Binnen-Festivals und Veranstaltungen im gesamten Stadtgebiet. Was da mannigfaltig klingt, spiegelt die geballte Diversität des aktuellen Musikschaffens in Berlin wider. Dies ist in vielen Fällen politisch, mitunter gar aktivistisch, thematisiert etwa die existenziellen Bedrohungen durch die Klimakrise und die destruktiven Folgen des Anthropozäns.
Ökologische Fragestellungen behandeln beispielsweise die Tanzperformance obitop:biotop von Ulrike Brand (9.9.), die Konzertinstallation flowers & frequencies von AnA Maria Rodriguez (24. + 25.9.) sowie die Klanginstallation Totes Holz (29.9.) von Lena Mahler und Christina Ertl-Shirley. Auch Alexandra Spence aus der Berliner Echtzeitmusikszene setzt sich im Rahmen der Reihe biegungen im ausland mit Klang und Ökologie auseinander (17.9.). Das Reanimation Orchestra kreiert gleich ein „post-humanes Orchester“ (17.9.). Politisch zeigt sich ebenfalls das Festival des Y-E-S-Kollektivs, zu dem etwa die queeren Komponierenden Neo Hülcker und Laure M. Hiendl gehören: Hier geht es um Schwerpunkte wie die Pflanzenkunde der Hildegard von Bingen und Aktivismus in kolonisierten Urlaubsregionen, zudem werden Choreographien für Demonstrationen eingeübt (10. + 11.9.). Viele weitere Veranstaltungen lösen die eurozentristischen Grenzen zwischen Genres, Sparten, Disziplinen und Traditionen in globaler Perspektive auf.
concerti-Tipp:
Monat der zeitgenössischen Musik Berlin
1.9.–30.9.2022
Hier gehts zum vollständigen Programm und zu weiteren Infos.