In Deutschland ist der Musical-Ruf dank massentauglicher Plattitüdenproduktionen und des Bühnenallerlei à la „My Fair Lady“ und „West Side Story“ nicht der beste. Zwar schaffen Projekte wie „Die Schreibmaschine“, ein Berliner Open-Stage-Event, bei dem neue Musical-Ideen ausprobiert werden können, Abhilfe, scheitern aber an der öffentlichen Sichtbarkeit, die so gut wie nicht existent ist. Corny Littmann, Intendant der drei Schmidt-Theater auf der Hamburger Reeperbahn, wollte das 2015 ändern und rief kurzerhand den Musical-Wettbewerb Creators ins Leben, bei dem eine Fachjury eingereichte Musicals sondiert und einen Teil davon zu Vorrunden nach Hamburg einlädt.
Das Besondere: Kommt eine Produktion weiter ins Finale, wird sie mit 10.000 Euro ausgestattet, damit die Macher der Shows aus der zwanzigminütigen eine fünfzigminütige Produktion auf die Beine stellen und sie in der Endrunde präsentieren können, zu der Intendanten aus ganz Deutschland eingeladen werden. Denn Littmann geht es nicht darum, einen Sieger zu küren, sondern die Produktionen „an den Intendanten“ zu bringen, so dass sie an Theatern aufgeführt werden.
Creators: Neue Musicals braucht das Land
An dem Prinzip hat sich auch 2017 bei der zweiten Ausgabe von Creators nichts geändert: Aus siebzig Bewerber-Musicals suchte die prominent besetzte Jury, zu denen unter anderem Littmann selbst, Johannes Mock O’Hara, Christian Kühn und Jane Comerford gehören, zwanzig Vorrundenteilnehmer aus, von denen sich fünf in die Endrunde sangen und tanzten, die gestern abwechselnd auf den Bühnen des Schmidt Theaters und des Schmidtchens stattfand.
Zu sehen waren fünf qualitativ höchst unterschiedliche Produktionen. Während die Flugbegleiter-Episodensatire „Bitte nicht im Stehen kacken – The fabulous life of a Saftschubse“ von Mirko Klos ebenso provokant wie grell-überzeichnet und plattitüdenhaft über die Bretter der Welt mäanderte ohne dabei eine Geschichte geschweige denn Sinn oder gar Qualität zu präsentieren, verpufften die 10.000 Euro Produktionszuschuss dort ebenso wie bei Karl Lindners „B A Star“, wo man mit einer Musikmischung aus Neuer Deutscher Welle und großen Broadway-Produktionen der vergangenen 30 Jahre zu Texten nach dem Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Prinzip malträtiert wurde, im Ausprobiernirwana.
Broadway-Anleihen auf der Reeperbahn
Recht vielversprechend begann hingegen die Produktion „Back into the Closet“ von Peter Aufderhaar und Matthias von Schemm, die sich das Thema Homosexualität zur Brust nahmen und den schwulen David im bayerischen Bergidyll mit Hilfe einer missionierend-therapierenden Christenvereinigung von seiner „Krankheit“ „heilen“ lassen – inklusive thematischer Anleihen beim Broadway-Hit „The Book of Mormon“ (nur eben eingedeutscht und damit auch harmlos, weil zahnlos). Die durchaus schmissige und ins Ohr gehende Musik konnte indes leider nicht verhindern dass die zunehmend kruder werdende Story die Dramaturgie zusammenkrachen ließ. Was blieb, war ein Slapstick-Scherbenhaufen statt einer Auseinandersetzung mit einer interessanten und gesellschaftsrelevanten Plotidee. Schade.
Besser durchdacht war da schon Florian Miros und Werner Bauers „WWW – #verwunschen & vernetzt“, das in der Vorrunde noch den Titel „The Wicked Witch of the Web“ trug und an dessen Plot der Autor in den vergangenen Monaten stark gearbeitet hat, wobei die Grundidee blieb: Der Märchenwald liegt im Sterben, denn immer mehr Märchenfiguren lassen sich vom „magischen Netz“ (quasi das Internet für Hänsel, Gretel und Co.) hypnotisieren. Eine Märchenamnesie setzt ein. Kann der Zauberwald noch von der guten Fee gerettet werden? Was sich erst einmal recht skurril anhört, funktioniert hier dank recht eigen agierender Märchencharaktere ebenso prima wie in dem Broadway-Hit „Into the Woods“, das derzeit als „Ab in den Wald“ auf den deutschen Stadtbühnen für frischen Musical-Wind sorgt. Womit Miros Idee zwar – auch dank diverser Songs mit Ohrwurmpotenzial – immer noch ganz zauberhaft, aber leider nicht ganz neu ist.
„Pendelton“ schafft mit Tradition etwas Originäres
Anders verhält es sich mit „Pendelton und die Theaterleichen“ von Konstantin Georgiou (Text) und Chris Brewer (Musik), das, oberflächlich betrachtet, als eher herkömmliche Krimikomödie daherkommt. Aber mit ihrer Mischung aus Privat-Eye-Geschichte und Screwball-Komödie voll subtilem und pointiertem Humor, zu denen sich die beschwingten und wohldurchdacht komponierten Melodien von Brewer gesellen, schafft es ausgerechnet die Produktion, die sich auf die Tradition des Musicals besinnt, als einziges Stück, etwas wirklich Originäres auf die Bühne zu bringen, das nicht zuletzt dank der durchdachten Regie von Nik Breidenbach und der detailverliebten Choreografie von Silvia Varelli zu unterhalten und zu begeistern weiß.
Obwohl „Pendelton und die Theaterleichen“ mit ihrer ausgefeilten Geschichte und ihren tollen Ohrwurmliedern das mit Abstand größte Potenzial bewies, musste sich das Musical nach Juryentscheid den ersten Platz mit der Produktion „WWW – #verwunschen & vernetzt“ teilen. Gewinner sind aber letztlich alle fünf Shows, denn dank der Bühne und den jeweils 10.000 Euro, die Corny Littmann den Musicalmachern bot, konnten sich die Shows ausführlich einem Fachpublikum und zahlreichen Intendanten präsentieren und auf sich aufmerksam machen. Und vielleicht kann man dadurch schon bald das eine oder andere der fünf Musicals in abendfüllender Länge auf den Stadttheaterbühnen der Republik bewundern – wie etwa das Nachbarschaftsmusical „Zzaun!“, das den ersten Creators-Wettbewerb 2015 gewann und das Ende Oktober in der Staatsoperette Dresden zur Uraufführung kommt.
Proben zu „Pendelton und die Theaterleichen“: