Auch in Berlin sind Theater und Konzerthäuser geschlossen, wurden Festivals abgesagt, raunen sich in den Opernhäusern die Bühnenkulissen ihre eigenen Geschichten zu. Wo sind sie, die großen Gesten, die klangsatten Erzählungen, die berühmten Komponisten?
Von Mendelssohn bis Eisler
„An ihren Ruhestätten findet ihr sie!“, sagt Ulrike Manthei. Die in Berlin geborene Kunsthistorikerin bietet Stadtführungen zu den Gräbern und Wirkungsstätten von Musikern wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Fanny Hensel und Hanns Eisler an. Ihre Touren gestaltet sie als eine Kombination aus Spaziergang und Ortswechsel per U-Bahn. Eine dieser musikalischen Berlin-Entdeckungen führt beispielsweise von den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor in Kreuzberg über den Gendarmenmarkt mit dem Konzerthaus und der nahe gelegenen Mendelssohn-Remise bis zum Dorotheenstädtischen Friedhof in Mitte. Dort fand unter anderem Paul Dessau (1894–1979) seine letzte Ruhe. In Hamburg geboren, wirkte er ab 1925 als Dirigent an der Städtischen Oper in Berlin, emigrierte 1933, lebte in New York und Hollywood und kehrte 1948 in die damals sowjetische Besatzungszone zurück. Der Dorotheenstädtische Friedhof weist eine hohe Dichte prominenter Kultur- und Geistesgrößen auf. Neben Dessau ruhen hier Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Herbert Marcuse und der Architekt Karl Friedrich Schinkel, der unter anderem das Alte Museum und das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (heute: Konzerthaus Berlin) erbaute. Warum ist gerade dieser Friedhof ein so exponierter Ort, um die vielfältigen Bezugspunkte und Querverweise zu entdecken, die Berlins kulturelle Hotspots so interessant machen?
Hohe Promi-Dichte
Die Dorotheenstadt war eine Erweiterung Berlins aus dem 17. Jahrhundert. Sie liegt ungefähr zwischen dem Kupfergraben, dem Brandenburger Tor, Unter den Linden und der Spree am Bahnhof Friedrichstraße. Der Brandenburger Kurfürst schenkte seiner Frau Dorothea die Gegend. Hier gab es die Dorotheenstädtischen Kirche, die auch Neustädtische Kirche genannt wurde. „Da die Friedhöfe aus Hygienegründen außerhalb der Stadtmauern lagen, wurde der Friedhof der Dorotheenstädtischen Kirche 1762 vor dem Oranienburger Tor gegründet“, erklärt Manthei. „Der entscheidende Punkt: Innerhalb der Grenzen der Dorotheenstadt lagen berühmte Institutionen wie die Singakademie, die Akademien der Künste und der Wissenschaften, die Bauakademie, die Universität zu Berlin. Persönlichkeiten, die an diesen Institutionen arbeiteten oder lehrten, wohnten auch in der Dorotheenstadt. Demzufolge wurden sie auch auf dem hiesigen Friedhof beerdigt. Er übt bis heute eine große Anziehungskraft aus. Das merke ich auch bei meinen Touren.“
Geschichten hinter der Geschichte
„Die Heimat ist weit, doch wir sind bereit, wir kämpfen und siegen für dich: Freiheit!“ Diese Liedzeilen des politisch engagierten Komponisten Paul Dessau (aus „Spaniens Himmel“) sind eine Steilvorlage für Ulrike Manthei. Mit ihrer Agentur „Erlebe die Stadt“ hat sie sich ganz der Idee verschrieben, die „Geschichten hinter der Geschichte“ zu erzählen. Ihr Arbeitsplatz sei die Straße, nicht der Schreibtisch, erzählt sie. Den „Elfenbeinturm der Geschichtswissenschaft“ verlässt sie gerne, denn nur hier, in den Straßenschluchten der einst zerbombten und isolierten Stadt, an imposanten wie auch versteckten Plätzen und Weggabelungen ließe sich die Vergangenheit bis in die Fingerspitzen fühlen. „Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich Fassaden, Brücken, Denkmäler mit den Händen streichle.“ Eine Stadtführung sollte mehr sein als pures Sightseeing. Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck „Walk along memory lane“. Ein Wiedersehen mit Erinnerungsstücken aus Musik, Literatur, Kunst und Kino an konkreten Orten stellt Verbindungen und Parallelen zum eigenen Lebensweg her. Zu den thematischen Angeboten von „Erlebe die Stadt“ zählen auch Touren zu Erich Kästners Roman „Emil und die Detektive“ und der hypnotisch-detailverliebten TV-Serie „Babylon Berlin“. Brechts „Dreigroschenoper“ mit der Musik von Kurt Weill, uraufgeführt im August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm, spielt eine zentrale Rolle in der 14. Episode (Staffel 2) der international erfolgreichen Produktion.
Umfangreiche Recherche
Die Liebe zum Detail zeichnet auch die Arbeit aus, die hinter der Tour „Auf den Spuren berühmter Musiker in Berlin“ steckt. Die Recherche zu den Protagonisten und ihren Geschichten ist umfangreich, das Ergebnis ordnerfüllend. Die große Herausforderung lautet dann: Wie bringe ich all diese Informationen, Anekdoten und musikgeschichtlichen Verweise „auf die Straße“, in einen sinnigen Kontext – und das in einem Zeitrahmen von zweieinhalb Stunden? Am Anfang zeichnet Manthei den ersten Entwurf einer Route als Mindmap mit Orten, Straßen, Plätzen und den ausgewählten Themen. „Nun geht es ab nach draußen und ich laufe die Tour zum ersten Mal. Das ist so ein bisschen wie die Witterung aufnehmen. Hier merke ich, was funktioniert, wo die Stopps sein müssen, damit alle das sehen, worüber ich spreche. Ich gehe auch oft Extraschleifen. So entdecke ich weitere Einzelheiten, die sich einfügen lassen.“ Das alles dokumentiert sie auf ihrem Handy. Die Details dienen ihr als Gedächtnisanker, wenn sie mit ihrer Gruppe – nie mehr als 12 Personen – losgeht. „Jede Tour ist anders als die letzte. Jede ist ein Unikat, weil es immer auch andere Teilnehmer sind. Jeder, der etwas mitteilen möchte, bekommt die angemessene Zeit dazu, und so ergeben sich manchmal spontan andere Wege.“
Die Kraft der eigenen Erinnerungen
Die Spurensuche soll Spuren hinterlassen. „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Vergangenheit unsere Zukunft prägt“, betont Ulrike Manthei. „Wer die Kraft der eigenen Erinnerungen und der persönlichen Geschichte erkennt, ist ein verantwortungsvoller Teil der Gesellschaft.“ Wie könnten wir ohne diese Geschichten leben? Sie sind – um mit einem der meistverwendeten Schlagworte des Jahres 2020 zu argumentieren – systemrelevant.
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Mehr InformationenAuf den Spuren berühmter Musiker in Berlin
Musikalischer Rundgang, ab 5 Personen für Einzelpersonen, bis 12 Personen für Gruppen
2,5 Stunden, 40 Euro pro Person, 180 Euro gesamt für Gruppen bis 12 Personen (Preise ohne U-Bahn-Tickets)
Kontakt: Telefon 0174 – 316 01 39, E-Mail info@erlebe-die-stadt.de