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Musikalische Spurensuche: Halberstadt

Die perfekte Entschleunigung

In Halberstadt wird eines der außergewöhnlichsten Konzerte der Welt gegeben. Es hat schon angefangen. Aber beeilen müssen Sie sich nicht: Sie haben noch über 600 Jahre Zeit!

vonHelge Birkelbach,

Wo liegt überhaupt Halberstadt? Auf halber Strecke zwischen Hannover und Leipzig. Oder Bielefeld und Berlin. Oder Hamburg und Hof. So ungefähr jedenfalls. Irgendwie hatte man das historisch eindrucksvolle Städtchen in Sachsen-Anhalt, idyllisch gelegen im nördlichen Harzvorland, berühmt für seinen gotischen Dom, nicht mehr auf dem Schirm. Für die Menschen im bundesrepublikanischen Westen verschwand es nach der Trennung Deutschlands aus dem Blickfeld. Verschluckt im „Zonenrandgebiet“. Stark zerstört zum Ende des Zweiten Weltkriegs, fiel die einstige Bischofsstadt, stolzes mittelalterliches Handelszentrum und bedeutender Verkehrsknotenpunkt, in einen Dornröschenschlaf. 1935 eröffneten die Junkers-Werke eine Niederlassung zum Bau der Tragflächen für die Ju 88, als Garnisonsstadt wies der Ort bereits eine militärische Tradition auf. Der Fliegerhorst an den Thekenbergen wurde im April 1944 von der US-Luftwaffe zerstört, weitere Bombardierungen folgten, bis schließlich ein Flächenangriff auf die Innenstadt am 8. April 1945 mit fast 600 Tonnen Spreng- und Brandbomben den historischen Kern dem Erdboden gleichmachte. Ein Großteil der einzigartigen Fachwerkhäuser ging verloren, 720 Bauten aus der Zeit des 15. bis Anfang des 18. Jahrhunderts. Berühmte Baudenkmäler waren entweder komplett zerstört oder stark beschädigt, so der Ratskeller am Holzmarkt, die Alte Münze, das 1905 im Jugendstil erbaute Stadttheater und die Paulskirche, deren Reste 1969 gesprengt und beseitigt wurden. Noch erhaltene Fachwerkhäuser, insbesondere die in einfacher Bauweise errichteten in der Unterstadt, ließ die DDR-Führung zum Leidwesen der Bürger verkommen oder gleich abreißen. Im Jüdischen Viertel hatten die Nazis Jahre zuvor bereits ganze Arbeit geleistet, die verwinkelten Gassen verwüstet und Menschen deportiert. Seit dem 18. Jahrhundert zählte die jüdische Gemeinde in Halberstadt zu den bedeutendsten Mitteleuropas. Ab 1942 nicht mehr.

Stadt der Verwüstung

Wollen wir nicht doch lieber in das nur 14 Kilometer südlich gelegene Quedlinburg fahren? Das von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhobene Bilderbuchstädtchen blieb vom Zweiten Weltkrieg wie auch von den Bausünden der Nachkriegszeit verschont. Warum also Halberstadt, ein Ort voller Ruinen, Bombentrichtern und Betonbrutalismus? Nun: Nichts davon ist wirklich zutreffend. Der schöne Dom steht noch, gleich daneben wird der Domschatz aufbewahrt, die markanten, unterschiedlich hohen Türme von St. Martini befinden sich in Sichtweite. Und die Altstadt ist keiner nichtssagenden Fußgängerzone mit Malls, Versicherungs-Hochhäusern und Profanbauten gewichen, sondern erwacht – am Rande des hoch gelegenen Domplatzes – mit frisch renoviertem Fachwerk aus ihrem Dornröschenschlaf. Wir spazieren durch die Altstadt, entdecken auf dem Weg die Gleise der 1903 elektrifizierten Straßenbahn, kommen am Jüdischen Museum und der Moses Mendelssohn Akademie vorbei, wo im Innenhof die Grundrisse der ehemaligen Synagoge erfahrbar werden. Ein Ort der Erinnerung, ein Kunstprojekt: Ein streng gefasster Steinweg führt zu den zentralen Punkten der jüdischen Liturgie, dem nach Osten ausgerichteten Toraschrein und dem Vorlesepodest, der sogenannten Bima. Auf den Terracottaplatten, die zu vorsichtig-ausladenden Schritten zwingen, kann man Darstellungen von Pflanzen und deren hebräische Namen erkennen. Die Natur kehrt an diesen Ort der Stille zurück.

Uns fällt wieder ein, warum wir nach Halberstadt gefahren sind. Unsere Fahrt sollte uns zeigen, was es mit dem Modewort „Entschleunigung“ auf sich hat. Und deshalb suchen wir das eigentliche Ziel unseres Wochenendausfluges auf. Wir biegen in Richtung Norden ab, die Burchardi-Kirche liegt fußläufig. Hier erklingt ein Werk, das 639 Jahre dauern soll. Mehr Entschleunigung geht nicht.

Auf dem Weg

Ganz bewusst haben wir diesen Weg gewählt: Raus aus der hektischen Stadt mit dem Auto, unvermittelt und rasch auf die Autobahn abgebogen. Rasend fliegen die Landschaften an uns vorüber und wir merken, wie sich durch die Stetigkeit des Geradeausfahrens, mit hohem Tempo, wie es nur auf Deutschlands sanft gewundenen Asphaltbändern möglich ist, die Wahrnehmung wandelt. Reziprok zum Hochschaukeln der Tachonadel, die heutzutage natürlich digital ist, verlangsamt sich die Zeit. Ein Meer von Windrädern zieht an uns vorbei, gemächlich kreisen ihre Rotoren. Der Blick weitet sich, Wolkentupfer erscheinen am Horizont, impressionistisch hingekleckster Klatschmohn säumt die Felder, die bald im satten Gelb der Rapsblüte erstrahlen werden. Wir sehen kurz ein Fußballfeld, das verwaist ist. Würde hier ein Spiel stattfinden, würden der Ball und die Spieler wie eingefroren an uns vorbeirauschen, keine Bewegung wäre zu erkennen. Ein Schild verheißt einen Abzweig zum Puppen- und Teddybärenmuseum in Nienhagen, nordöstlich von Halberstadt. Wir gleiten weiter durch das mittlerweile hügelige Land. Es ist nicht mehr weit.

Ein gurgelndes Bächlein

Vor uns tauchen die Spitzen von Kirchtürmen auf, einer ist merkwürdig zu kurz geraten. An der Wehrstedter Brücke baut sich plötzlich der historische Wasserturm vor uns auf, rotglühender Backstein weist auf die Zeit der Industrialisierung hin. Noch ein Schlenker, das Tempo runter, und wir finden einen Parkplatz unweit des Doms. Beschwerlich steigen wir die Stufen zum Domplatz empor. Wir besuchen Prof. Rainer Neugebauer, der in der ehemaligen Stadtbücherei wohnt, nur wenige Meter von der Hochschule Harz entfernt, wo er bis vor kurzem Sozialwissenschaften lehrte. Neugebauer ist Kuratoriumsvorsitzender der John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt – und ein lebendes Buch. Es ist unmöglich, ihm nicht gespannt zuzuhören. Das gesamte Erdgeschoss seines Habitats besteht aus Büchern: Philosophie, Kulturgeschichte, Politik, Musik, große Denker und Kämpfer, unüberschaubar.

Jetzt aber los! Gemächlichen Schrittes, bestens durch unseren privaten Stadtführer unterhalten, gelangen wir zur Holtemme, ein gurgelndes Bächlein, in dessen flachem Wasser Forellen fröhlich ihre Bahnen ziehen. Wir überqueren die Holzbrücke, vor uns erscheint das ehemalige Zisterzienserkloster St. Burchardi, ein schmuckloser, dennoch eindrucksvoller Bau mit einem großen Hof. Rechter Hand liegt das Cage-Haus, das die Orgelstiftung beheimatet. Hier finden auch Podiumsdiskussionen, Meisterkurse und Konzerte statt. Aber wir wollen zu einem ganz besonderen Konzert.

In Halberstadt kümmert man sich um die Aufführung von Cages Werk "ORGAN2/ASLSP"
In Halberstadt kümmert man sich um die Aufführung von Cages Werk „ORGAN²/ASLSP“

So langsam wie möglich

Wie langsam ist „so langsam wie möglich“? Diese Frage stellte sich John Cage, der „sanfte Anarchist“ unter den zeitgenössischen Komponisten, der 1992 kurz vor seinem 80. Geburtstag verstarb. 1985 konnte er mit seinem Stück „ASLSP“ die Frage vorläufig beantworten. Die Abkürzung steht für „As slow as possible“. Es war für Klavier geschrieben und bestand aus acht Teilen, von denen einer ausgelassen und einer wiederholt werden sollte. 1987 richtete der Komponist dann zusammen mit dem deutschen Organisten Gerd Zacher das Stück für Orgel ein, bei dem nun alle acht Teile gespielt werden müssen und auch wiederholt werden können. Bei der Uraufführung in Metz interpretierte Zacher das Werk ORGAN²/ASLSP in 29 Minuten. Bei einem Orgelsymposium in Trossingen entstand 1997 die Idee, das Werk auf mehrere Jahrhunderte anzulegen: Auf der Orgel lassen sich die Töne praktisch unendlich lange spielen, solange die Luftzufuhr gewährleistet ist und die Orgel nicht zusammenbricht. Es braucht auch keine lebendigen Organisten, die jahrelang denselben Klang spielen, sondern zum Beispiel Sandsäckchen, die durch ihr Gewicht an den jeweiligen Tasten ziehen. Doch welche Orgel würde für dieses „ewige“ Stück – und ausschließlich nur dafür! – zur Verfügung stehen? 

„ORGAN²/ASLSP“

Wir treten ein – und gehen auf Sand. Die Kirche, 1186 von Bischof Burchard I. gegründet, ist vollkommen entkernt, nur rohes Mauerwerk und freiliegende uralte Balken. Ein Rotschwänzchen, so heißt es, hätte im hintersten Winkel ein Nest gebaut. Nichts zu sehen. Der Raum diente als Scheune, Lager für Kriegsflüchtlinge, Stallung. Im Boden sind noch Vertiefungen von verschwundenen Säulen zu sehen. Eine anhaltende Vibration erfüllt die Luft. Der Klang, derzeit aus fünf Tönen zusammengesetzt, ändert sich je nach Position. Nur ein Schritt nach vorne, schon verschiebt sich die Mixtur mit ihren Obertönen. Kein Synthesizer der Welt könnte das erschaffen. Die Architektur arbeitet subtil mit. Seit dem 5. Oktober 2013 steht der Fünfklang im Raum, bestehend aus zwei Basstönen und drei hohen Tönen. Irgendwann sehen wir auch die Orgel im Querschiff. Sie ist klein, aus Holz, nur ein zweckdienliches Gerippe mit auswechselbaren Pfeifen. Gegenüber die Windanlage, ziemlich mächtig. Man kann sogar hineinkrabbeln, zur Wartung. Das machen wir natürlich nicht. Wir stehen lange in der Kirche, wechseln die Positionen. Die Zeit steht endlich still.

Auf dem Rückweg wird es langsam dunkel. Der nächste Klangwechsel steht unmittelbar bevor: Am 5. September ist es soweit.

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Mehr Informationen

St.-Burchardi-Kirche zu Halberstadt
Am Kloster 1
38820 Halberstadt

Website mit Infos zum Klangwechsel

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