Angesichts des gesundheitlichen und finanziellen Leids und Elends, das die Pandemie mit sich bringt, fällt es mir schwer, es so offen zu sagen – trotzdem: Ich konnte mich mit den neuen Formen des Konzertlebens sehr schnell anfreunden. Das lag vor allem darin, dass mich zwei nicht allzu kleine Kleinigkeiten schon immer am Konzert- und Opernleben gestört haben, nämlich Etikette und Konvention. So erhaben und erhebend klassische Musik sein kann: Kneifende Abendkleider sind mir ein Graus, auch verzichte ich nur zu gerne auf den strengen Blick der mir nicht bekannten Person neben mir, wenn ich innerhalb von zwei Minuten dreimal meine Sitzposition verändere. Und über die oft nur schwer erträgliche Cuvée verschiedenster Parfüms will ich erst gar nicht sprechen. Das ist der klare Vorteil von Streamings, bei denen ich auch mal nebenher ein paar Pistazien knabbern kann. Das Gegenargument, dass beim „Konzert im Wohnzimmer“ die Aufmerksamkeit leidet, kann ich nicht verstehen, denn die Tagesschau gucken wir ja auch nicht im Kollektiv an, sondern allein auf der heimischen Couch.
Erfrischend anders
Ein regelrechtes Aha-Erlebnis hatte ich in Nürnberg bei Monteverdis „L’Orfeo“. Selten kamen mein Mann und ich derart beschwingt und hellwach aus der Oper: Nach etwa neunzig Minuten „Sitzzeit“ taten unsere Rücken und Knie nicht so weh wie sonst, außerdem konnten wir die grandiose Vorstellung, die aufgrund der Hygienebestimmungen in vielen Belangen so erfrischend anders war, noch bei Tageslicht in einem Café ausklingen lassen. Auch die Veranstaltung mit dem ganzen Drumherum habe ich deutlich legerer empfunden als sonst, was nicht nur an den nicht mehr gar so feinen Klamotten des Publikums lag. Diese neuen, verkürzten und auch innovativen Konzert- und Opernformen zu früheren Tageszeiten müssen unbedingt erhalten bleiben! Rein ins Konzerthaus, volle Konzentration auf ein, maximal zwei Werke, dann wieder raus und den restlichen Tag genießen – das wäre für mich eine große Bereicherung im Kulturleben.
Kleiner und formloser
Allzu oft habe ich nämlich einfach keine Lust auf das kurze, meist zeitgenössische Stück zu Beginn und auch nicht auf die obligatorische Sinfonie nach der Pause des Konzerts, sondern möchte eigentlich nur das Solokonzert hören, für das ich mir letztendlich auch die Konzertkarte gekauft habe. Natürlich dürfen solche verkürzten und eher zwanglosen Formate nicht das gewohnte Konzertleben ersetzen: Wenn man nach drei oder vier Stunden ruhigen Sitzens völlig erschlagen aus der Oper kommt und, salopp gesagt, fertig mit der Welt ist – an solche Abende erinnert man sich ein Leben lang, sie können einen auch verändern. Aber für mich darf es künftig gerne auch mal eine Nummer kleiner und formloser sein.
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