Wie ist Ihr Verhältnis zu Musik im Allgemeinen?
Waltraud Anderlohr: Ich stehe mit klassischer Musik auf und gehe mit klassischer Musik schlafen. Allerdings haben sich meine Hörgewohnheiten während der Corona-Krise verändert. Zuvor habe ich auch andere Genres gehört, aber momentan höre ich ausschließlich Klassik. Ich denke, das liegt daran, dass mir und uns allen die Möglichkeit fehlt, Konzerte und Oper live zu erleben.
Sind Sie regelmäßige Konzert- und Operngängerin?
Anderlohr: Ich habe seit Jahrzehnten ein Abonnement des Würzburger Mainfranken Theaters: Das ist für mich das nächstgelegene Haus und dort habe ich sonst mindestens acht Produktionen pro Saison gesehen. Allerdings dauert die Fahrt dorthin auch circa eine Stunde mit dem Auto. Ich wohne mitten im Spessart und da ist das Angebot in Sachen Kultur begrenzt. Egal, wo man hin will: Man muss eine kleine Reise auf sich nehmen. Für klassische Musik tue ich das aber gerne und war auch regelmäßig bei Veranstaltungen in Aschaffenburg, in der Alten Oper Frankfurt, beim Kissinger Sommer und auch beim Mozartfest Würzburg. Und ich bin regelmäßig zu den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern gefahren: sechs Stunden im Zug und dann sofort ins Konzert!
Warum ist klassische Musik so wichtig für Sie?
Anderlohr: Musik hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt, von Kindheit an. Sie hat mir über Krisen hinweggeholfen und mich aufgefangen. Auch und besonders in diesem Jahr, in das ich mit gesundheitlichen Problemen gestartet bin. Nach der Reha landete ich direkt im coronabedingten Lockdown – ich durfte nicht nur krankheitsbedingt kein Auto fahren, sondern aufgrund meiner Zugehörigkeit zur Risikogruppe kaum mehr nach draußen. Wie für viele andere Menschen auch war Musik in dieser Zeit eine große Hilfe für mich. Und insbesondere die Livestreams haben mich nicht nur unterhalten, sondern regelrecht geheilt.
Wie kamen Sie auf die Idee, sich Livestreams anzuhören und anzuschauen?
Anderlohr: Durch Ankündigungen in Zeitung und Radio sowie durch meine Kinder! Sie haben mir die App Instagram auf meinem Tablet installiert und so konnte ich zum Beispiel nahezu alle Hauskonzerte von Igor Levit mitverfolgen. Wenn er spielt, bin ich dabei. Ich bin zwar nicht Teil der Community, aber manchmal lese ich die Kommentare und freue mich über das Interesse der Leute. Alles zeugt von der Freude über solche Angebote. Da es in der aktuellen Zeit sehr schwer ist, überhaupt klassische Musik zu hören, sind solche Aktionen eine schöne Abwechslung.
Haben Sie jemals abgeschaltet, wenn Ihnen das Programm nicht gefallen hat?
Anderlohr: Aus einem richtigen Konzert kann man nicht einfach rausgehen … Natürlich habe auch ich meine bevorzugten Komponisten und bin nicht der größte Fan zeitgenössischer Musik – aber ich habe tatsächlich immer bis zum Schluss durchgehalten, auch wenn mir etwas mal nicht gefallen hat. Das bin ich doch dem Künstler schuldig!
Glauben Sie, dass sich Ihr Nutzungsverhalten in Bezug auf Streaming-Angebote verändern wird?
Anderlohr: Ich denke ja, denn auch wenn die Corona-Einschränkungen hoffentlich irgendwann der Vergangenheit angehören, bin ich weiterhin in meiner Mobilität eingeschränkt. So werde ich mein Theater-Abonnement nur dann wahrnehmen können, wenn ein Bus zur Veranstaltung fährt. Ich werde mich deshalb noch mehr mit dem Thema Streaming auseinandersetzen und kann mir auch gut vorstellen, für Online-Konzerte zu bezahlen – schließlich müssen die Künstler in diesen Zeiten auch von etwas leben!
Kann Streaming ein Ersatz für ein Live-Erlebnis sein?
Anderlohr: Höchstens zu fünfzig Prozent, auf Dauer möchte ich nicht darauf angewiesen sein. Mir fehlt dabei das gemeinsame Erleben von Musik, die Atmosphäre und Spannung im Saal. Ob man einen Stream zu Hause genießen kann, hängt stark von den technischen Voraussetzungen ab. Ich werde mir jetzt einen neuen Laptop kaufen, damit ich die Online-Angebote besser nutzen kann – mein alter Rechner ist nämlich schon zehn Jahre alt und viel zu langsam!
Gibt es für Sie Vorteile, die ein Livestream mit sich bringt?
Anderlohr: Es ist natürlich schon etwas entspannter, wenn man sich nicht Wochen oder sogar Monate vorher um ein Ticket kümmern, an einen anderen Ort fahren, einen Parkplatz suchen und überpünktlich sein muss. Wenn ich mir an einem Samstagabend eine Oper im Fernsehen oder über einen Stream ansehen will, kann ich das auf meinem Sofa tun, im gemütlichen Zuhause-Look, mit einem Glas Wein oder einer Tasse Tee in der Hand. Und keiner ist böse, wenn ich zwei Minuten zu spät an meinem Platz bin!
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