„Sehnsucht nach der Heimat“ lautet – ausgerechnet – ein Tourismusangebot eines der führenden Hideaway-Hotels in Deutschland. An sieben Tagen spielen Spitzeninterpreten wie Fazıl Say oder Mischa Maisky Musik vertriebener Künstler, dazu werden Lesungen, Gespräche und natürlich exklusive Spa-Anwendungen angeboten. Kostenpunkt für zwei Personen: ab 640 Euro pro Person und Nacht zuzüglich Massagen und Co.
In Berlin wiederum kann man in diesem Monat Fazıl Say aber auch für 32 Euro im Konzerthaus am Gendarmenmarkt erleben. Und ein paar Fahrradminuten weiter gingen im Herbst an der Staatsoper drei „Ring“-Zyklen über die Bühne, Kostenpunkt für alle vier Abende: 1.100 Euro in der höchsten, 75 Euro in der preiswertesten Kategorie. Für Sparfüchse wäre also eine einwöchige Kulturreise nach Berlin inklusive Anreise, Übernachtung und dem derzeit besten „Ring“ ab 500 Euro möglich gewesen.
In etwa so viel zahlt aber auch ein Münchner für ein Abonnement an der Bayerischen Staatsoper in der besten Kategorie. Wobei besagter Münchner die teureren Festspiel-Vorstellungen wiederum den Touristen überlässt, die mit dem Opernbesuch eine Städtereise verbinden oder einen Zwischenstopp einer größeren Rundreise einlegen. Und dann gibt es noch Festivals wie die Salzburger und Bayreuther Festspiele, bei denen weniger die Reise selbst als vielmehr der musikalische Genuss das Ziel ist.
Viele Wege führen zur Musik
Es führen also viele Wege zur Musik – hierzulande glücklicherweise unabhängig davon, wie der eigene Geldbeutel gefüllt ist, denn Fazıl Say wird in Berlin nicht schlechter spielen als im Hideaway. Doch diese so zahlreichen Wege verändern sich derzeit, seit Corona allemal. Am drängendsten wird dies am umgekehrten Gang der Dinge deutlich, wenn nämlich die Musiker zum Publikum reisen.
Das vor einigen Jahren geborene Wort „Flugscham“ sowie die globale Reiselähmung in diversen Lockdowns führte bei so manchem Orchester zur Frage, ob es in Zukunft noch vertretbar, um nicht zu sagen: überhaupt noch möglich sei, ausgedehnte Tourneen zu machen. Natürlich dauerte es nicht lange, bis Mathematik-Aficionados vorrechneten, dass die Asientournee eines mitteleuropäischen Orchesters in etwa so viele CO2-Emissionen verursache wie 100.000 Menschen, die die Konzerte online verfolgen würden. Die Realität hat aber gezeigt, dass die 100.000 zahlungswilligen Streamingkonsumenten erst noch gefunden werden müssen.
Fußabdruck und Visitenkarte
Etwas seriöser nimmt sich da der CO2-Rechner aus, den die Städte Leipzig und Dresden speziell für ihre Kulturbetriebe entwickelt haben und der künftig auch eine Entscheidungshilfe hinsichtlich der Reisemöglichkeiten der städtischen Orchester sein kann. Partnerin in der Pilotphase dieses Rechners ist die Dresdner Philharmonie. Dort möchte man auf Tourneen nicht vollends verzichten, doch spielt der ökologische Aspekt nunmehr eine tragende Rolle in der Reiseplanung, für den auch der CO2-Rechner zurate gezogen werden soll, um Reiserouten effizient zu gestalten und auch die abgeflogene Meilenzahl im Blick zu haben – oder auch mal in den Zug zu steigen und nicht ins Flugzeug.
„Ich bin sehr optimistisch, dass wir Wege finden, den berechtigten Anspruch der Nachhaltigkeit mit unseren künstlerischen Anliegen und unserer Botschafterrolle überzeugend zu verbinden“, erklärt die Intendantin der Dresdner Philharmonie Frauke Roth. Denn auch diese nicht zu unterschätzende Funktion haben Orchester weiterhin: Sie sind Botschafter und gewissermaßen auch die Visitenkarten der Regionen, in denen sie beheimatet sind.
Aber wenn hierzulande amerikanische Spitzenorchester vor halbleeren Rängen spielen, weil das Publikum aus der Pandemie als unberechenbares Wesen herausgetreten ist, das mal in Strömen kommt und sich dann wieder einem Konzertbesuch kolossal verweigert, dann lassen sich solche Tourneen nicht mehr nur in ökologischer, sondern vor allen Dingen auch in ökonomischer Hinsicht nicht mehr rechtfertigen. Was dann auch zur Frage führt, ob es am Ende nicht doch sinnvoller ist, wenn Menschen den Konzertbesuch auf ihren eigenen Reisen einplanen und nicht mehr darauf setzen, dass jedes internationale Orchester früher oder später zu ihnen in die Region kommt.
Überhaupt wird sich die zunehmende Spontanität des Publikums auf den Konzertbetrieb insgesamt auswirken. Weil immer weniger Zuhörer ihre Besuche langfristig planen wollen, steht über kurz oder lang die Instanz des Abonnementkonzerts zur Disposition. Ob und wie die Orchester hierzulande auf diese Entwicklung reagieren, wird sich zeigen, wenn im Verlauf des Frühlings die kommenden Spielzeiten vorgestellt werden. Das Philadelphia Orchestra, das mit seinem Innovationsdrang in vielen Belangen als Trendsetter in der Orchesterkultur fungiert, hat die Zahl ihrer subscription concerts kurzerhand um zehn Prozent gekürzt. Auch die Preise für die Konzerte selbst hat man dort drastisch gesenkt.
Reise- und Musikerlebnisse miteinander verbinden
Doch was würde die Reduktion von Abonnementkonzerten und Orchestertourneen auffangen? Eine Antwort darauf könnte in der Festivallandschaft zu finden sein. Die Bregenzer Festspiele konnten sich auch im letzten Jahr über eine Auslastung von hundert Prozent freuen, Pandemie hin oder her. Auch bei den Salzburger Festspielen freut man sich über Besucherzahlen wie auch über Gesamteinnahmen, die nur unwesentlich geringer waren als zu Vor-Coronazeiten. Und der Heidelberger Frühling wächst sich immer mehr zu einem zwölfmonatigen Festival aus, das jahreszeitenübergreifend zahlreiche Klassikfans in das idyllische Neckarstädtchen lockt.
Dass parallel zur ungetrübten Nachfrage bei den Big Playern der Branche auch noch eine schiere Vielzahl kleiner Festivals gedeiht, zeugt von einem um sich greifenden Bedürfnis, Reise- und Musikerlebnisse miteinander zu verbinden. Wobei manche Festivals die Besucherströme gerade in die so vielbesungene „Peripherie“ zu schleusen vermögen, etwa das Schleswig-Holstein Musik Festival mit seinen nunmehr über 120 Spielstätten. Hier nehmen die Orte eine wichtige Rolle für die Attraktivität eines Konzerts ein, wie Festivalintendant Christian Kuhnt erklärt, denn auch dadurch wird das Konzert „aus dem Alltag herausgehoben, wird es zum Ereignis“. Wobei bemerkenswert ist, dass nicht nur Touristen aus der Ferne, sondern vor allem ein Stammpublikum aus dem Norden Deutschlands die Konzerte besucht. Das freilich aber auch aufgebaut werden musste, wie Kuhnt betont.
Das Festival als Ausflugs- und nicht als Fernreiseziel? Hierzulande wäre das allerorten möglich, denn ganz gleich, wo man wohnt: Das nächste Festival, ob groß und glanzvoll oder klein und fein, liegt gleichsam auf der nächsten Regionalbahnstrecke ein paar Stationen weiter. Und trotzdem müssen die Opern- und Konzerthäuser eine tragende Lösung für den Publikumsschwund finden. In ihren ersten Jahren hat die Elbphilharmonie gezeigt, dass ein Konzerthaus allein schon wegen seiner spektakulären Architektur zum Touristenmagnet werden kann, wo die Musiker in einem garantiert ausverkauften Haus spielen, auch wenn sie noch so abseitige Nischen bedienen.
Doch muss so ein Kulturtempel auch mit Leben angefüllt werden, muss er in musikalischer Hinsicht die Menschen mitreißen – und zwar Touristen wie Stadtbewohner gleichermaßen. Ob in der Hansestadt dieses Konzept aufgeht und ob das hauseigene NDR Elbphilharmonie Orchester (das derzeit übrigens acht Aboreihen hat) diesen Anspruch auch nach der fast schon absurden Anfangseuphorie erfüllen kann, wird sich erst noch zeigen müssen, da lassen die letzten drei chaotischen Pandemie- und Krisenjahre keine fundierten Rückschlüsse zu.
Im Bereich des Musiktheaters jedenfalls haben gerade die mittelgroßen Opernhäuser gezeigt, dass man mit hohem künstlerischem Niveau und kreativer Spielplangestaltung beides schafft: Kulturreisende anzulocken und gleichzeitig die Opernliebhaber vor der eigenen Haustür davon abzuhalten, in andere Städte zu reisen, indem man eben selbst seine eigenen Inszenierungen etwa eines „Ring“-Zyklus aus dem Boden stampft, wie es derzeit in Braunschweig oder Kassel geschieht. Denn dafür muss man inzwischen nun wirklich nicht mehr nach Bayreuth oder Berlin reisen. Aber man kann.