Wenn Sänger-Traumpaare aufeinander treffen, und dazu ein Maestro mit wahren Wagner-Weihen am Pult steht, dann können Sternstunden entstehen, von denen Wagnerianer noch Jahrzehnte nach den stellaren Begegnungen schwärmen. Dann sind diese großen Persönlichkeiten oft schon längst nicht mehr auf der Bühne zu erleben, werden jedoch verklärt zu idealen Interpreten der guten alten Zeit. Aber war früher wirklich alles besser? Wer nach den besten Einspielungen der Hauptwerke des Bayreuther Meisters sucht, der findet in der Tat kaum aktuelle CD-Aufnahmen. Denn die Ära der aufwändigen Studio-Produktionen scheint ein für allemal beendet. Es ist schlicht zu teuer, mit einem Spitzenorchester und den führenden Sängerinnen und Sängern des Wagner-Fachs für eine Woche ins Studio zu gehen. Zumal ein kompletter Ring des Nibelungen wird vermutlich nie mehr eingespielt werden – ausgenommen sind die Live-Mitschnitte auf CD oder DVD oftmals auch kleiner Opernhäuser, die derzeit ja immer wieder Großes leisten.
Einspielungen, die das Prädikat „Referenzaufnahme“ verdienen, aber sind fast immer Jahrzehnte alt. Da mag sich der Geschmack in sängerischen Fragen mittlerweile geändert haben, auch das orchestrale Pathos von einst mag heute nicht mehr jedermanns Sache sein. Zumal die Wahl des Tempos ist nie absolut richtig oder falsch, sondern spiegelt das sich stets wandelnde Verhältnis zur Zeit. Gleichwohl: Die hier ausgewählten Aufnahmen von Der fliegende Holländer bis zum Parsifal besitzen, auch wenn die älteste Einspielung schon 60 Jahre alt ist, immer noch zeitlose Gültigkeit. Vollkommen, ja ideal sind auch sie nur selten, beispielhaft sind sie alle. Zugegeben: Subjektiv, da durch persönliche Geschmacksurteile und Qualitätskriterien geprägt, ist so eine Auswahl gleichwohl. Über Wagner lässt sich eben trefflich streiten.
Wagner: Der fliegender Holländer
mit George London, Anja Silja u.a.
Covent Garden Opera Orchestra
Antan Dorati (Leitung)
Decca 1960
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Der englische Holländer
Obwohl die Orchesterleistung und ihre technische Abbildung nicht perfekt sind, ist Antal Doratis Londoner Holländer-Einspielung von 1960 wegen der unübertroffenen Besetzung der Titelpartie dennoch beispielhaft. George London ist ein Wagner-Heldenbariton, von dem man heute nur träumen kann. Er hat die Dämonie für die Partie, er verfügt über eine majestätische Stimme, die in allen Lagen machtvoll anspricht, er durchdringt die Rolle intensiv. Ein grandioser Sänger. Ihm zur Seite steht die junge Leonie Rysanek als Senta. Hochinteressant ist auch die Besetzung des Daland mit dem Italiener Giorgio Tozzi, der die Buffo-Seite des frühen Wagner, seine Nähe zum deutschen Singspiel beglaubigt.
Wagner: Tannhäuser
mit Plácido Domingo, Cheryl Studer, Agnes Baltsa, Matti Salminen, Andreas Schmidt
Philharmonia Orchestra, Giuseppe Sinopoli (Leitung)
Deutsche Grammophon 1988
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Der italienische Tannhäuser
Einen „vaterländischen Belcanto“ erträumte sich Richard Wagner einst für seine Musikdramen, der in den Opern des Zukunftsmusikers stattdessen allzu oft praktizierte konsonantenspuckende Sprechgesang ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Wenn Plácido Domingo den Tannhäuser singt, ist Wagners Diktum einmal wirklich überprüfbar: Und es wird wunderbar eingelöst. Hier muss kein überforderter deutscher Heldentenor die unbequem liegende Partie stemmen, hier singt der berühmte Spanier einen eleganten, leidenschaftlichen, auf die Legatolinie bedachten mit der Welt ringenden Künstler. Auf die Dramatik der Partie muss bei Domingo, dessen Deutsch besser ist, als ihm oft nachgesagt wird, durchaus niemand verzichten. Giuseppe Sinopoli liest aus der Partitur (in der Pariser Fassung) mit flexiblem Schönklang ihre Lyrismen heraus, die Andreas Schmidt als baritonbalsamischer Wolfram auch vokal beisteuert.
Wagner: Lohengrin
mit Anja Silja, Astrid Varnay, Franz Crass, Gerhard Stolze, Jess Thomas, Klaus Kirchner, Niels Moller, Ramón Vinay, Tom Krause, Zoltan Kelemen, Bayreuth Festival Orchestra, Wolfgang Sawallisch (Leitung)
Decca 1962
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Der Bayreuther Lohengrin
Der jüngst verstorbene große deutsche Kapellmeister Wolfgang Sawallisch leitete diesen 1962 bei den Bayreuther Festspielen mitgeschnittenen Lohengrin. Wie beim 1988 entstandenen Tannhäuser Sinopolis stehen auch hier singende, also keine brüllenden Wagner-Helden auf der Bühne, die gleichwohl exzellent gestaltende Sänger-Darsteller sind. Neben der blutjungen Anja Silja als Elsa steht der intelligent intensive Amerikaner Jess Thomas in der Titelpartie auf der Bühne. Das größte Ereignis, ja Wagner-Urereignis der Aufnahme ist die grandiose Astrid Varnay als richtig böse Ortrud.
Wagner: Tristan und Isolde
mit Rhoderick Davies, Edgar Evans, Dietrich Fischer-Dieskau, Kirsten Flagstad, Josef Greindl, Philharmonia Orchestra of London, Wilhelm Furtwängler (Leitung)
EMI Classics 1952
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Furtwänglers Tristan
Soll man Karl Böhms Neu-Bayreuther Gipfeltreffen des Paradepaars Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen oder Carlos Kleibers mit den zwei Wagner-Lyrikern Margaret Price und René Kollo besetzte, genialisch apollinisch musizierte Anverwandlung an die erste Stelle der Tristan-Diskographie setzen? Es ist schwer zu sagen: Aber ich wähle dann doch Wilhelm Furtwänglers alterweise späte, schopenhauerianisch vergeistigte, langsam ausmusizierte Version von 1952 mit der königlichen Kirsten Flagstad, die sich die hohen Cs hier bei der Schwarzkopf leiht, und Ludwig Suthaus, einem dunkel schweren Tristan-Sänger der alten Schule. Dietrich Fischer-Dieskau stattet den Haudegen Kurwenal mit seinem Dr. phil.-Bariton aus, Josef Greindl ist ein hoch differenzierter, nie larmoyanter König Marke.
Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg
mit René Kollo, Helen Donath, Theo Adam, Karl Ridderbusch, Peter Schreier, Kurt Moll, Staatskapelle Dresden, Herbert von Karajan (Leitung)
EMI Classics 1970
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Karajans Meistersinger
Furtwänglers Nachfolger am Chefpult der Berliner Philharmoniker ist schon 1970 moderner, als man gemeinhin meint. In den kontrapunktisch durchwirkten Meistersingern, hier mit der Staatskapelle Dresden aufgenommen, wagt der dirigierende Diktator Herbert von Karajan eine kammermusikalische Transparenz, die Maßstäbe für die Generation nach ihm gesetzt hat. Auch in der Besetzung deutet sich ein Zeitenwechsel an. Nachzuhören bei Theo Adams noch relativ traditionellem, charismatischem Hans Sachs, besonders aber bei René Kollos jugendlich sensiblem, Kraft und Zartheit klug balancierendem Walther von Stolzing.
Wagner: Der Ring des Nibelungen
mit Flagstad, Crespin, Dernesch, Nilsson, Fassbaender Ludwig, Watts, King, Hotter, Höffgen, Stolze, Popp, Windgassen, Fischer-Dieskau, Wiener Philharmoniker, Georg Solti (Leitung)
EMI Classics 1958-65
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Soltis Ring
Beim Ring müsste man eigentlich von Stück zu Stück eine andere Aufnahme wählen, wenn nicht mitunter gar gar von Akt zu Akt. Eine Idealbesetzung für die vielen, in der Komplexität der Anforderungen kaum komplett zu bewältigenden Partien kann es kaum geben. Ich entscheide mich dennoch für Georg Soltis berühmten Ring, den er zwischen 1958 und 65 mit den Wiener Philharmonikern eingespielt hat. Der sanguinische, stets von maximalem dramatischen Puls und orchestraler Plastizität getragene Zugriff bleibt zeitlos gültig – in dieser ersten Studio-Gesamteinspielung der Tetralogie auf Schallplatte, auf der Solti die damalige Wagner-Weltelite versammelt hat: George London ist der umwerfende Rheingold-Wotan. Die Nilsson und Windgassen sind Brünnhilde und Siegfried.
Wagner: Die Walküre
mit Jonas Kaufmann, Nina Stemme, René Pape, Anja Kampe, Mikhail Petrenko, Mariinsky Orchestra, Valery Gergiev (Leitung)
Mariinsky 2012
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Gergievs Walküre
Eines der wenigen geglückten Beispiele einer großen Wagner-Interpretation der Gegenwart sei gleichwohl als Ersatz für Soltis Walküre empfohlen. Valery Gergiev hat nämlich in St. Petersburg kürzlich die besten Wagner-Sänger unserer Tage versammelt. Und die beweisen, dass es mit der Krise des Wagner-Gesangs eben noch nicht so schlimm steht. René Pape als Wotan singt auf der Höhe seiner Kunst, berückend, ja berührend schön, verständig und verständlich. Nina Stemme erinnert mit ihrem dunkel getönten Brünnhilden-Sopran an eine andere grandiose nordische Göttertochter – die unvergessliche Astrid Varnay. Jonas Kaufmann liegt der Siegmund mit seinem baritonal geerdeten Tenor perfekt in der Stimme.
Wagner: Parsifal
mit Peter Hofmann, José van Dam, Victor van Halem, Dunja Vejzovic, Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (Leitung)
Deutsche Grammophon 1981
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Parsifal-Erfüllung
Wagners Weltabschiedswerk, sein Schwanengesang, dirigiert vom späten Herbert von Karajan mit den Berlinern: welch ein magisches Fließen, welch eine Fülle des Wagner-Wohllauts. Der Alte zaubert. Dieser Parsifal bedeutet orchestrale Erfüllung. Und Karajan verstand es, seine Sänger auf Händen zu tragen. Allen voran ist Kurt Moll als schlichtweg idealer Gurnemanz zu nennen. Gerade wurde er 75 Jahre alt. Leider hat der Ausnahmesänger sich von der Bühne zurückgezogen. Hier ist nun seine gottväterliche Basswürde, sein einzigartiges Timbre und die in allen Lagen resonanzreiche Stimme in seinen besten Jahren zu bestaunen. Kurt Moll ist und bleibt unerreicht. Peter Hofmann vermittelt vokal eindringlich die Wandlung vom tumben Toren zum Erkenntnis erlangenden neuen Gralskönig. Dunja Vejzovic stattet die Kundry mit aufregender dämonischer Schärfe aus. So soll Wagner klingen.