Dass Katzen imstande sind zu sprechen, wird jeder feinsinnige Katzenhalter irgendwann Stein und Bein behaupten. Wenn aber eine Wedgwoodkanne und eine Teetasse plötzlich zum Leben erweckt werden und miteinander in ein Kauderwelsch aus Englisch, Französisch und Pseudochinesisch ausbrechen, spätestens dann ist wirklich Märchenzeit. Kindlich verzaubert will der große Musiktheoretiker Theodor Adorno gewesen sein, als er Maurice Ravels Einakter „L’enfant et les sortilèges“, der nun an der Semperoper Dresden neu inszeniert wurde, erstmals hörte.
Vor genau 100 Jahren feierte das Stück mit dem deutschen Titel „Das Kind und der Zauberspuk“ in Monte Carlo seine Uraufführung und kam schon zwei Jahre später in Leipzig auf Deutsch heraus. Die Handlung der „Lyrischen Fantasie“ ist schnell erzählt: Im Hausarrest von der Mutter eingesperrt, vergeht sich das ungezogene Kind zuerst an diversen Einrichtungsgegenständen seines Zimmers und geht dann dazu über, Tiere zu quälen, bis es vom Spuk seiner zum Leben erweckten Umgebung so eingeschüchtert wird, dass es reumütig zum Menschsein zurückfindet.
Ravels Allegorie trifft den Nerv einer sich an Phantasmagorien berauschenden Zeit.
In den ebenso mystikbegeisterten wie technikgläubigen Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts traf Ravels pädagogische Allegorie über die Rache an einem kindlichen Zerstörungswütigen den Nerv einer sich an Phantasmagorien berauschenden Zeit. Der humanistische Clou der 22 kurzen, aber sehr pittoresken Szenen ist indes die erzieherische Wirkung auf das Kind: Nachdem es begreift, was es alles angerichtet hat, verbindet es dem verletzten Eichhörnchen die Pfote, wird damit zur Bindung befähigt und überwindet seinen Zerstörungstrieb.
Fantasievolles Schwarz-Weiß-Schema
An der Semperoper hat sich das Team um Regisseur James Bonas und Videokünstler Grégoire Pont dafür entschieden, die üppige Szenerie in Haus und Garten auf eine Hologramm-Gaze-Wand zu reduzieren. Ob Standuhr, Feuer oder Libelle: Alle zu handelnden Personen erweckten Figuren – und davon gibt es immerhin fast zwei Dutzend – werden bei ihrem Tun ausschließlich illuminiert. Das geschieht meist durchaus fantasievoll im Schwarz-Weiß-Schema, nur dem bedrohlichen Feuer wird eine lodernde Farbigkeit zugestanden. Dumm nur, dass die Figuren – fast durchweg mehrfach besetzt – auch zu singen haben und wegen ihrer einheitlichen Schwarzgewandung erst recht kaum zu unterscheiden sind.
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Ein mutiger Ansatz für eine Familienoper
In unserer extrem visuellen Welt – im Publikum sitzen tatsächlich Kinder, die auch in 45 Minuten Opernzeit nicht darauf verzichten können, ihre Smartphones auf neueste Instagram Reels und wichtige Nachrichten zu checken – ist dieser Ansatz sehr mutig, setzt er doch eine enorme Vorstellungskraft und vor allem Vorkenntnis des Stücks voraus. Dass die adorierte Märchenprinzessin nicht weitersingen kann, weil das Kind die Buchseiten herausgerissen hat, dass die Standuhr aus dem Takt gerät, weil ihr das Pendel zerbrochen wurde, oder dass die personifizierte Arithmetik auf Stelzen durch die Szene wandelt und falsche Matheergebnisse deklamiert, mag noch einsame Höhepunkte in der Aufmerksamkeit setzen.
Poesie und Zauber der Vielfalt lebender Wesen teilen sich indes schon nicht mehr mit: Den Walzer der Frösche, die Pastorale der Tapetenhirten und die Schlüsselszene, in der das Kind die Eichhörnchen-Pfote verbindet – all das vermittelt sich, wenn überhaupt, nur sehr flüchtig. Die Selbstüberschätzung der cineastischen Zeichentrickser trifft hier doch unglücklich auf eine zumindest partiell zu befürchtende Überforderung visuell übersättigter Kinderzuschauer.
Dirigent Elias Grandy und die Sächsische Staatskapelle Dresden setzen Ravels Partitur großartig um.
Bleibt als Hauptillustrativ die Musik, und die ist von allererster Qualität, sowohl auf dem Notenpapier des Komponisten als auch in der Interpretation von Dirigent Elias Grandy. Ravels Orchester ist riesig und verfügt zwischen Windmaschine und Käsereibe, präpariertem Klavier und Xylophon, Posaunenglissandi und fernöstlicher Pentatonik über einen unglaublichen Klangreichtum, den die Sächsische Staatskapelle Dresden wie zu erwarten ganz großartig und farbintensiv umzusetzen weiß. Auch der Sinfoniechor Dresden als Extrachor der Semperoper überzeugt mit differenzierter Stimmführung und verständlicher Aussprache, wenngleich er – und da fehlt die entsprechende Klangfarbe – die Partie des eigentlich vorgesehenen Kinderchores mit übernehmen muss.
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Sangliche Höhepunkte bietet auch die Solistenschar, angeführt von Jasmin Delfs als Koloratursopran-Feuer, Magdalena Lucjan als glühend amouröser Prinzessin und Anton Beliaev als gedemütigter Standuhr. Dagegen wirkt Nicole Chirka in der Titelpartie eher blass und kann wenig dafür, dass die Entwicklung des Kindes vom Wüterich zum mitfühlenden Wesen eher unterbelichtet bleibt. Dafür prosperiert das Orchester, hinter dem Gaze-Vorhang auf der Bühne platziert, als eigentlicher Träger der Handlung. Das mag musikdramaturgisch durchaus stimmig sein, wird für die versammelte Kinderschar zur Premiere aber zur Herausforderung, wenn man in Rechnung stellt, dass heute kaum noch ein Schüler Barock- von Jazzklängen unterscheiden kann und das Stück ab einem Alter von gerade mal acht Jahren empfohlen wird.
Für die erwachsenen Opernbesucher sind Ravels blitzschnelle Szenenwechsel dagegen eine große Freude, denn zwischen gregorianischen Chören, barocker Kontrapunktik und amerikanischer Revue erweist sich seine Partitur als Komposition im Wortsinn: als meisterhafte Zusammenstellung aus verschiedenen Jahrhunderten musikalischer Stilgeschichte. Seine Miniaturen dauern kaum mal länger als zwei Minuten und zeigen doch so viel Esprit, dass man zwischen Zitaten, Andeutungen und musikalischen Späßen immer wieder überrascht wird. Zum 150. Geburtstag Maurice Ravels gedeiht die Aufführung in den Händen der Staatskapelle Dresden auf diese Weise dann doch zu einem großen Geschenk.
Semperoper Dresden
Ravel: Das Kind und der Zauberspuk
Elias Grandy (Leitung), Grégoire Pont (Konzept & Video), James Bonas (Regie), Thibault Vancraenenbroeck (Bühne & Kostüme), Christophe Chaupin (Licht), Xavier Boyer (Videoeinrichtung), Jan Hoffmann (Chor), Martin Lühr (Dramaturgie), Nicole Chirka, Michal Doron, Sofia Savenko, Magdalena Lucjan, Jasmin Delfs, Dominika Škrabalová, Simeon Esper, Anton Beliaev, Martin-Jan Nijhof, Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Semperoper Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden
Termintipp
Sa., 22. Februar 2025 11:00 Uhr
Kinder & Jugend
Ravel: Das Kind und der Zauberspuk
Nicole Chirka (Das Kind), Michal Doron (Die Mutter u. a.), Sofia Savenko (Der Lehnstuhl u. a.), Magdalena Lucjan (u. a.), Elias Grandy (Leitung), Grégoire Pont (Regie)
Termintipp
So., 23. Februar 2025 11:00 Uhr
Kinder & Jugend
Ravel: Das Kind und der Zauberspuk
Nicole Chirka (Das Kind), Michal Doron (Die Mutter u. a.), Sofia Savenko (Der Lehnstuhl u. a.), Magdalena Lucjan (u. a.), Elias Grandy (Leitung), Grégoire Pont (Regie)
Termintipp
So., 09. März 2025 14:00 Uhr
Kinder & Jugend
Ravel: Das Kind und der Zauberspuk
Nicole Chirka (Das Kind), Michal Doron (Die Mutter u. a.), Sofia Savenko (Der Lehnstuhl u. a.), Magdalena Lucjan (u. a.), Elias Grandy (Leitung), Grégoire Pont (Regie)
Termintipp
So., 09. März 2025 18:00 Uhr
Kinder & Jugend
Ravel: Das Kind und der Zauberspuk
Nicole Chirka (Das Kind), Michal Doron (Die Mutter u. a.), Sofia Savenko (Der Lehnstuhl u. a.), Magdalena Lucjan (u. a.), Elias Grandy (Leitung), Grégoire Pont (Regie)
Termintipp
Mi., 19. März 2025 11:00 Uhr
Kinder & Jugend
Ravel: Das Kind und der Zauberspuk
Nicole Chirka (Das Kind), Michal Doron (Die Mutter u. a.), Sofia Savenko (Der Lehnstuhl u. a.), Magdalena Lucjan (u. a.), Elias Grandy (Leitung), Grégoire Pont (Regie)