Seid umschlungen, Millionen! Denn erfreulicherweise ist die Welt trotz aller Krisen doch noch nicht völlig untergegangen, und so bleibt zum Jahreswechsel Zeit für allerlei ansteckenden musikalischen Optimismus. Dabei ist es schon irgendwie seltsam, dass Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie immer nur zum Jahreswechsel stattfindet, dann aber gleich nicht weniger als zehn Mal: Wahrscheinlich braucht der Mensch zu diesem Zeitpunkt den meisten Zuspruch. Vielleicht liegt das daran, dass man kurz vor oder nach Silvester die Unwägbarkeiten des alten Jahres ungeschehen oder wenigstens vergessen machen will. Mit der „Ode an die Freude“ erschallt jedenfalls der feste Vorsatz, Schillers Utopie von der brüderlichen Menschlichkeit endlich Glauben zu schenken. Ob man sich daran gehalten hat, prüft man dann bei der nächsten Neunten.
So erklingt das Stück, das es dank der Europahymne auch für ungeübte Ohren zu großer Bekanntheit gebracht hat, nicht nur traditionell im Leipziger Gewandhaus mit dem berühmten Hausorchester unter Andris Nelsons, sondern an den exakt selbigen Abenden auch in der Semperoper mit der Sächsischen Staatskapelle unter Christian Thielemann. Wer immer noch nicht genug hat, kann sich das Werk nur leicht zeitversetzt auch noch mit der Dresdner Philharmonie im hiesigen Kulturpalast anhören – unter der Leitung ihres Chefdirigenten Marek Janowski in dessen letzter Saison. In Chemnitz übernimmt die hehre Aufgabe standesgemäß die Robert-Schumann-Philharmonie mit Martijn Dendievel am Pult.
Immerhin: Musikalische Schlüsselerlebnisse verheißt das Werk allemal, auch wenn man es schon zig Mal gehört hat, denn viele Details erschließen sich je nach Gemütszustand und Alter immer wieder neu und überraschend. Zumal wenn man dabei bedenkt, dass Beethoven zur Zeit der Entstehung bereits einige Jahre stocktaub und aufgrund der daraus folgenden gesellschaftlichen Skepsis nicht eben umgänglich war. Böse Zungen behaupteten gern, deswegen sei die Sinfonie gerade im ellenlangen Finale so furchtbar laut und pompös – auch wenn genau diese Eigenschaft von den Gralshütern der Musikhistorie später zum Vermächtnis für alle nachfolgenden Komponistengenerationen verklärt wurde. Sei’s drum: Man darf hoffen, über die schlichte Berieselung hinaus etwas mitzunehmen aus diesen Abenden. Das ist beileibe nicht wenig und den üblicherweise nicht ganz billigen Besuch in den Konzerthäusern wert.
Über den Tellerrand hinaus
Doch fürwahr, man kann sich an Beethovens Opus summum auch übersättigen, und so lohnt durchaus ein Blick über Schillers Tellerrand hinaus, schließlich darf man die ewige Freude auch anders besingen. In der Oper Leipzig etwa dirigiert Christoph Gedschold mit hauseigenen Kräften eine Operngala, wobei sich solch eine meist aus Best-of-Nummern zusammensetzt; dieses Konzept verfolgt auch das Anhaltische Theater Dessau, wo Elisa Gogou ein eher konzertant angelegtes Programm bis hin zu Gershwins sinfonischem Jazz dirigiert. Eher nach Wiener Neujahrskonzerttradition spannt dafür am Theater Erfurt Generalmusikdirektor Alexander Prior einen weiten Bogen von Richard Wagners liebem Schwan zu Johann Strauss und seinen Walzermelodeien mit Rausschmeißerqualität. Wer’s mag, für den wirkt auch fröhlicher Eskapismus gesundheitsförderlich. Oder sagen wir so: In unsicheren Zeiten, in denen es an jeder Weltenecke brennt, kann uns die Musik einen beständig funkelnden Hoffnungsträger wahren, der über nahezu jedes Ungemach hinweghilft: die Zuversicht.