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Opern-Kritik: Theater Altenburg Gera – Die toten Augen

Hypnotische Überwältigungsmusik

(Gera, 28.3.2025) Für die phänomenale Wiederentdeckung von Eugen d’Alberts Musikdrama „Die toten Augen“ setzt der regieführende Generalintendant Kay Kuntze auf ein subtiles Kammerspiel und wagt für den religiös-symbolischen Überbau geschickt verdeutlichende Kunstgriffe.

vonRoland H. Dippel,

Es war wieder ein Abend, bei dem das Theater Altenburg Gera staunen und bewundern machte. Eine phänomenale Wiederentdeckung bzw. Wiedergutmachung von der Schwelle zur Moderne, ein fulminantes Ensemble in Bestform, ein leuchtkräftiges Philharmonisches Orchester, ein passioniert-kluger Dirigent und ein Generalintendant, welcher die vieldeutige und erstaunlich gut konstruierte Handlung um die fatalen wie tröstlichen Folgen eines Jesus-Wunder mit suggestiver Ehrlichkeit inszenierte.

Die Premiere von Eugen d‘Alberts Musikdrama „Die toten Augen“ wurde ein voller Erfolg mit fast einer Viertelstunde Schlussapplaus. Anregung zu dieser Produktion gab die Sopranistin Dagmar Schellenberger, welche die sportiv und emotional fordernde Zentralpartie der Myrtocle vor 27 Jahren mit der Dresdner Philharmonie unter Ralf Weikert eingespielt hatte. Im Königlichen Opernhaus Dresden erlebte das 95-Minuten-Opus 1916 seine Uraufführung.

Sinnliche Mysterienoper

Der komponierende Starpianist Eugen d’Albert hatte in „Die toten Augen“ unüberhörbar eine „Salome“-Initiation. Das Orchester gleißt, rauscht und beglückt zwischen den Polen des Ariosos vom „guten Hirten“ der Büßerin Maria von Magdala und dem dionysisch flirrenden Lied von „Amor und Psyche“: Die blinde Korintherin Myrtocle lebt mit ihrem gehandicapten Mann Arcesius in Jerusalem. Am Tag seines Einzugs macht sie der Messias sehend. Als Myrtocle den schneidigen und sie liebenden Römer Galba darauf für ihren Mann hält, eskaliert die Situation.

Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera
Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera

Arcesius bringt Galba um. Myrtocle will nichts gesehen haben. Um ihre Eheidylle zu bewahren, verzichtet sie in freier Entscheidung auf das Augenlicht und erblindet erneut durch einen langen Blick in die Sonnenglut. Davor verflucht sie den Heiland, wie dieser es voraussagte. In der Rahmenhandlung sucht und findet der gute Hirt sein verlorenes Schäflein.

Das Aufbrechen von unter Konventionen vergrabenen Primärtrieben

Marc Henry war nicht der einzige Kabarettist der Entstehungszeit mit Vorlieben für pompöse Dekadenz. Mit ihm ersann Hanns Heinz Ewers, der im Widerstreit zwischen Humanismus und Faschismus zerriebene Weltreisende und Erfolgsautor für Bühne, Film und Buch, ein bemerkenswert vielschichtiges Textbuch. Der Ausstatter Markus Meyer setzte auf die kompositorische Opulenz und die pathetisch wie feinnervig ausholende Dichtung ein großbürgerliches Interieur mit Brokattapete, üppiger Tafel und psychedelischer Farbexplosion bei Myrtocles Augenwunder.

Wer will, kann diese Inszenierung als Aufbrechen von unter Konventionen vergrabenen Primärtrieben deuten, welche nach Eskalation wieder unter Verschluss kommen. Die Hirten tragen mit Lametta bestäubte Steigeranzüge. Maria von Magdala erscheint – in geradliniger Innigkeit gesungen von Franziska Weber – mit Buch und blauem Mantel wie im Mysterienspiel. Die charismatische Myrtocle irrt durch die Räume, ist sich selbst und der emsig arbeitenden Zofenschar ein Rätsel. Anstelle des Schäfchens liegt am Ende ein gestürzter engelgleicher Amor mit freiem Oberkörper und gefederten Flügeln auf der Bahre (Ballett-Trainingsleiter Davit Vardanyan).

Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera
Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera

Die Regie nimmt das Stück ernst

Kay Kuntze holt nicht zu einem aufgesexten Prankenschlag aus, aber er ist eindeutig. Zwischen den Hauptfiguren entwickelt Kuntze ein subtiles Kammerspiel und setzt für den religiös-symbolischen Überbau verdeutlichende Kunstgriffe. Die Kranken und Gebrechlichen von Jerusalem treiben in ihren weißen Tüchern ein wildes, gewaltsames Bashing gegen die heidnische Ausländerin Myrtocle. 

„Opfere dein eigenes Glück für das Glück der anderen“ lautet die grausame Forderung, der Myrtocle mit ihrer zweiten Erblindung gehorcht. Kuntze antwortet, indem er den toten Amor und den Schädel als bleischweres Vergänglichkeitszeichen setzt. D‘Alberts Partitur endet nach intensivster Klangmagie etwas fahler und einschüchternd – Mysterienspiel prallt auf verschwenderisch koloriertes Psychodrama.

Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera
Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera

Ensemble-Sternstunde

In Gera kann man solche Stücke aus dem eigenen Ensemble sehr gut bis exzeptionell besetzen. Der von Alexandros Diamantis einstudierte Chor ist aufgesplittert. In d‘Alberts Oper hat jede Stimme ihr kleines Gesangs- oder Dialogsolo. Die Solistinnen und Solisten baden und schwelgen in d‘Alberts wohldosiert abgesicherten Vorstößen Richtung Moderne. Den bizarren und auf Wagners Mime aufbauenden Charaktertenor-Partien dieser Jahre fügt d‘Albert den orientalischen Quacksalber Ktesiphar hinzu, als der Jan Kristof Schliep beherzt und vital einsprang. Das Quartett der hebräischen Frauen (Caroline Nkwe, Jana Lea Hess, Annick Vettraino, Ina Westphal) behauptet sich substanzreich neben den größeren Partien.

Für die wichtige Partie von Myrtocles Vertrauter Arsinoe schwebt Julia Gromballs leichter Sopran mit warmen Farben über den Orchestermassen. Assistiert vom markanten Kai Wefer gibt Raoni Hybner de Barros einen Hirten mit emphatisch schönen Bögen und individuell suggestivem Timbre. Isaac Lees fast heldentenoraler Höhenstrahl begegnet der von Amors Liebespfeilen versehrten Figur des Galba mit gewinnender Energie. Alejandro Lárraga Schleske, der sich mit Intelligenz und energetischer Präsenz immer mehr weiter ins schwerere Baritonfach vorarbeitet, ist ein hochemotionaler Arcesius auf großer Linie.

Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera
Szenenbild aus „Die toten Augen“ am Theater Altenburg Gera

Bei Anne Preuß als Myrtocle stimmt einfach alles

Sie alle überragt, das muss in dieser Oper so sein, Anne Preuß als Myrtocle. Ihre Diktion liebkost Worte und schießt bedrohliche Textpfeile. Da stimmt einfach alles. Dabei modelliert Anna Preuß einen interessanten und in jeder Szene neue Facetten enthüllenden Charakter aus großartigem Gesang. Nie kippt das explosive Geschehen in exaltierten Schwulst. Das ist bei d‘Alberts Hochglanz-Partitur eine echte Kunst, gerade weil Kuntze und der mit überlegtem Enthusiasmus dirigierende GMD Ruben Gazarian in ihrer Liebe zu dieser Oper einig sind. Gazarian artikuliert diese Liebe mit einer sängerfreundlichen Abstimmung und telepathischem Vertrauen in das nicht nur an diesem Premierenabend hochklassig aufspielende Philharmonische Orchester Altenburg Gera. Symbolistisch-dekadente Wonneschauer waren gewollt und erreicht.

Theater Altenburg Gera
Eugen d’Albert: Die toten Augen

Ruben Gazarian (Leitung), Kay Kuntze (Regie), Markus Meyer (Bühne und Kostüme), Alexandros Diamantis (Chor), Peter Larsen (Dramaturgie), Anne Preuß, Alejandro Lárraga Schleske, Isaac Lee, Raoni Hybner de Barros, Kai Wefer, Julia Gromball, Franziska Weber, Jan Kristof Schliep, Caroline Nkwe, Jana Lea Hess, Annick Vettraino, Ina Westphal, Raoni Hybner de Barros, Davit Vardanyan, Opernchor des Theaters Altenburg Gera, Philharmonisches Orchester Altenburg Gera


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