Manchmal ist das Wetter nur daran schuld, dass wir irgendwo festsitzen, weil der Bahn- oder Flugzeugverkehr eingestellt wurde. Manchmal liegt es aber auch nur am Wetter, dass eine so vielschichtige Komposition entsteht wie Lera Auerbachs viertes Streichquartett mit dem Beinamen „Findings“. Bei einem Besuch der russischen Komponistin in Hamburg war es so stürmisch, dass sie ihre Abreise verschieben musste, sich für die Nacht bei einem Bekannten einquartierte und auf dessen Dachboden einen unerwarteten und ungewöhnlichen Fund machte: alte Notenpapiere in unterschiedlichen Handschriften beschrieben. Keine Kompositionen, sondern Fragmente, vermutlich Aufzeichnungen zu Studienzwecken. Ein harmloser Dachbodenfund, möchte man meinen, doch Auerbach glaubte nicht an einen Zufall. Der Sturm, der sie von ihrer Reise abhielt, hatte sie zu diesen Noten geführt. So entstand die Idee, eine Sammlung von sechzehn Inventionen für Streichquartett zu komponieren, in denen sie das gefundene Notenmaterial verarbeitet hat.
Erstmals wird dieses 2007 in den USA uraufgeführte Werk nun in Deutschland erklingen, beim Hamburger nathan quartett befindet es sich in besten Händen. Denn die Werke der 38jährigen Komponistin gehören zum Kernrepertoire der vier Musiker. „Das Faszinierende an Auerbachs Kompositionen ist ihre besondere Musiksprache“, schwärmt Dana Anka, die erste Geigerin des Quartetts. „Ihre Musik ist nicht willkürlich, nicht auf Effekte ausgerichtet, sondern immer auf der Suche nach einer sinnhaft zusammenhängenden Struktur. Sie benutzt durchaus moderne Klangfarben, komponiert aber sehr erzählerisch mit Anklängen ans Religiöse.“
Auch für Cellist Boris Matchin markieren die immer wieder neuen Begegnungen mit den Stücken Auerbachs Höhepunkte des gemeinsamen Musizierens: „Bei Auerbach genießt man sein Instrument, darf man klassische Spieltechniken, die man als Musiker mühsam erlernt hat, auch noch anwenden, was bei vielen zeitgenössischen Stücken nicht mehr der Fall ist.“
Die Wertschätzung Auerbachs ist wohl einer der wenigen Punkte, in denen sich das nathan quartett von Anfang an einig war. In allen anderen Dingen wird die produktive Streitkultur gepflegt: „Oft sind wir bei den Proben ganz und gar nicht einer Meinung“, gesteht Anka. „Manchmal rege ich mich dabei wahnsinnig auf, schmeiße den Bogen in die Ecke und trinke erst mal einen Kaffee im Garten. Wenn aber aus einem Streit etwas Neues entsteht, ist der Streit nicht böse, sondern gut.“
Und Neues entsteht bei den vier regen Musikern nahezu permanent. In nur zwei Jahren haben sie die imposante Anzahl von 30 verschiedenen Quartetten aufgeführt. Der Fleiß folgt der Notwendigkeit, denn als Veranstalter eigener Konzertreihen in Hamburg, Basel und demnächst auch in Portugal muss das Quartett ständig wechselnde Programme bieten. Damit und mit einer reizvollen Mischung aus klassischem und neuem Repertoire erreicht es auch ein jüngeres Publikum, das sich sonst eher selten in Kammermusikkonzerte verirrt. Lera Auerbach hat Noten gefunden und das nathan quartett einen Weg, das intensive Miteinander von vier Streichinstrumenten immer wieder neu und aufregend zu er-finden.