Im Jahr 1838, Franz Schubert war bereits vor zehn Jahren gestorben, reiste Robert Schumann von Leipzig nach Wien und traf sich dort unter anderem mit Schuberts Bruder Ferdinand. Dieser zeigte dem Gast die Partitur einer noch nicht aufgeführten, aber vollständig komponierten Sinfonie des verstorbenen Franz. Schumann nahm die Partitur mit zurück und konnte den ebenfalls in Leipzig lebenden Felix Mendelssohn schnell davon überzeugen, die Sinfonie aufzuführen. Mendelssohn selbst war schon zu dieser Zeit berühmt – nicht nur als Komponist, sondern auch als Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters, das bereits damals zu den renommiertesten Orchestern in Deutschland gehörte.
Um diese „neue“ Sinfonie von der ebenfalls in C-Dur stehenden, aber kürzeren sechsten Sinfonie Schuberts zu unterscheiden, erhielt sie den Beinamen „Große“, eine sinnvolle Maßnahme, denn zusätzlich zu den beiden Werken in derselben Tonart werden die beiden späteren Sinfonien – die „Unvollendete“ und die „Große“ – bis heute unterschiedlich gezählt. Für die deutschsprachige Schubert-Forschung ist die „Große“ heute die Nr. 8, doch im englischen Sprachraum trägt sie meist die Nr. 9.
Die „Große“ entsteht nicht aus dem Nichts
Eine Sinfonie zu schreiben, war in den 1820er-Jahren nicht einfach. Beethoven, der noch bis 1827 in Schuberts Geburtsstadt Wien lebte, legte die Messlatte für diese neuerdings so repräsentative Gattung so hoch, dass auch gestandene Komponisten an ihr scheiterten oder zumindest zu scheitern meinten. Das betraf selbst noch die folgende Generation. Und Schubert? Seine ersten sechs Sinfonien sind frische Jugendwerke, Zeugnisse eines hoch Talentierten, aber kein Vergleich mit den wuchtigen Würfen Beethovens. Dann folgte die von Mythen umrankte „Unvollendete“ mit ihren tiefgründigen, aber eben nur zwei Sätzen.
Vor der „Großen“ C-Dur-Sinfonie schrieb Schubert an einen Freund: „Überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen“. „Auf diese Art“ – das meint den (vermeintlichen) „Umweg“ über die Kammermusik. Und tatsächlich entstehen in dieser Zeit einige von Schuberts bedeutendsten Kammermusikwerken: das Oktett, die Streichquartette „Rosamunde“ und „Der Tod und das Mädchen“ sowie die „Grand Duo“ genannte Sonate für Klavier zu vier Händen. Die „Große“ C-Dur-Sinfonie entsteht also nicht aus dem Nichts, auch wenn sie als im Bereich der Instrumentierung natürlich mehr Variationsmöglichkeiten bietet als die kammermusikalischen Werke.
Drei Elemente prägen die Sinfonie
Die vier Sätze wirken zunächst konventionell: Sonatensatz mit langsamer Einleitung, langsamer Satz, Scherzo mit Trio als Mittelteil, als Finale schließlich wieder ein Sonatensatz. Doch schon die Eröffnungstakte der solistischen Hörner erweisen sich als eine Keimzelle fast aller weiteren Themen und Motive. Auf rhythmischer Ebene sind es die Punktierungen, die weite Strecken der gesamten Sinfonie prägen, auf melodischer Ebene einzelne Wendungen, die in folgenden Themen wieder auftauchen. Drittes prägendes Element sind Triolen in Viertel- oder Achtelvariante, die zum Ende der Einleitung zunächst als reine Begleitfigur in den Geigen auftauchen, dann aber immer häufiger wichtige Bedeutung erhalten.
Gerade im Kopfsatz sind die Bezüge sogar noch dichter. In der Koda tauchen die Eröffnungstakte als Erinnerung und inhaltliche Klammer wieder auf, nun allerdings voll instrumentiert. Durch einen Fehler in der ersten Schubert-Gesamtausgabe von 1884 wird allerdings jahrzehntelang und in spätromantischer Tradition offensichtlich auch gern übersehen, dass nicht nur das Allegro, sondern auch die Einleitung im Alla-breve-Takt (2/2) steht. Der Hornruf, im Allegrotempo in doppelt so langen Notenwerten geschrieben, müsste demnach beide Male im nahezu gleichen Tempo erklingen.
Beethoven-Anspielungen inklusive
Das Scherzo nimmt mit seiner Wucht auf der einen und den bäuerlich-volksliedhaften Episoden auf der anderen Seite vieles vorweg, was rund 50 Jahre später zu einem der Markenzeichen der Sinfonien Anton Bruckners wurde. Das Finale mit seinen über 1.000 Takten stürmt einerseits geradezu voran, bietet andererseits aber auch „kreisende“ Momente, wenn es über der pulsierenden Begleitung eine Phrase über 32 Takte ausspinnt und diese dann auch noch zweimal wiederholt, Anspielungen an das „Freuden“-Thema aus Beethovens 9. Sinfonie inklusive.
Es dürften vor allem Passagen wie diese sein, die Robert Schumann zur Kommentierung von den – wie Mathias Husmann in seinen „Präludien fürs Publikum“ schreibt – mittlerweile sprichwörtlichen „himmlischen Längen“ des Werks veranlasst hat. Der auffälligste Satz der Sinfonie ist aber das Andante. Schon die Spieldauer von rund 15 Minuten lässt aufhorchen. Dazu kommt der ungewöhnliche formale Aufbau. Zwei musikalische Teile mit je zwei Themen werden einerseits mit Wiederholungen, andererseits blockweise so nebeneinander gesetzt, dass der Ablauf keiner der sonst üblichen Formen entspricht: Es ist keine Liedform, kein Variationensatz und auch kein Sonatensatz. Doch das sind nur die Äußerlichkeiten. Das zweite Thema des ersten Teils strotz nur so vor Kontrastwirkung, gegenüber dem ersten Thema, aber auch in sich selbst: Ohne Vorwarnung oder Übergang folgt ein brutales Forte nach dem anderen auf zaghafte Pianoeinwürfe.
Schuberts Kompromisslosigkeit
Nach dem choralartigen Teil des zweiten Teils wird dieses Thema in einer Art Durchführung bis zum dreifachen Forte gesteigert, wo es mit einem dissonanten Abriss im Nichts endet. Celli und Oboe führen wieder zur zweiten Teil, der diesmal nach A-Dur aufgehellt wird. Eine wirkliche Beruhigung oder nur eine Illusion? Es ist diese Kompromisslosigkeit Schuberts, dieses Aufeinanderprallen verschiedener Welten, die – jenseits seiner Lieder – einer echten Anerkennung seiner Werke zu Lebzeiten im Weg steht. Modulationen bis in Tonarten, die es in dieser Zeit eigentlich gar nicht gibt, scharfe dynamische Kontraste, der oft so melancholische Charakter seiner Themen: All dies lässt genug Zweifel, ob Passagen in Dur tatsächlich heiter und fröhlich sind oder vielleicht nur einen Wunschtraum darstellen.
Die wichtigsten Fakten zu Franz Schuberts Sinfonie Nr. 8 C-Dur-Sinfonie D 944:
Satzbezeichnungen
1.Andante – Allegro ma non troppo
2. Andante con moto
3. Scherzo. Allegro vivaco – Trio
4. Allegro vivace
Orchesterbesetzung
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher
Spieldauer:
Je nach berücksichtigen Wiederholungen 45 bis 60 Minuten
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Referenzeinspielung
Schubert: Sinfonie Nr. 9 C-Dur die „Große“
Münchner Philharmoniker
Günter Wand (Leitung)
Profil
Günter Wand war so etwas wie ein Urgestein deutscher Kapellmeistertradition. Manche lästerten, er habe eigentlich immer nur die drei großen „B“ dirigiert. Da er sich zur Barockmusik nicht sonderlich hingezogen fühlte, ist bei ihm das erste „B“ allerdings nicht Bach, sondern Beethoven, gefolgt von Bruckner und Brahms. Fasst man das typisch deutsche sinfonische Repertoire mit „aus dem deutschsprachigen Raum“ etwas weiter, so gehört ohne Zweifel auch Schubert dazu. Dessen letzter Sinfonie hat Wand sich mehrfach gewidmet, so auch mit dem Münchner Philharmonikern. Es ist typischer Günter-Wand-Stil, dicht an der Partitur, aber mit großem Spannungsbogen, der diese Aufnahme zu einem besonderen Dokument macht.
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