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Oper im Porträt

Bizet: Carmen

Dem Uraufführungspublikum war die Geschichte der „Carmen“ zu anrüchig. Bizet starb drei Monate später. Den Wandel zu einer der meist gespielten Opern erlebte er nicht mehr

vonNicolas Furchert,

Es gibt Komponisten, die schaffen es, einen einzigen „Hit“ zu schreiben, das eine Stück, das jeder kennt. Dazu gehört das Lied „La Paloma“. In zahlreichen Sprachen teils übersetzt, teils neu gedichtet, soll es zu den am meisten aufgenommen Musikstücke gehören. Geschrieben hat es ein Spanier, von dem kaum jemand gehört haben dürfte: Sebastián de Yradier (1809–1865). Yradier hat es nie ins Rampenlicht berühmter Tonsetzer geschafft, obwohl er die Vorlage für eine weitere weltberühmte Melodie geschaffen hat. Nur dass diesmal nicht einmal sein Name angegeben wurde.

Georges Bizet (1837–1875), selbst eine Art „One-Hit-Wonder“ mit seiner Oper Carmen von 1875, bediente sich für ein Lied aus genau jener Oper großzügig bei einem angeblichen spanischen Volkslied mit dem Titel „El Arreglito“. Mit nur wenigen Änderungen wurde daraus die Habanera „Ja die Liebe hat bunte Flügel“ oder – wie es in wörtlicher Übersetzung heißen würde – „Die Liebe ist ein rebellischer Vogel“. Einziger Hinweis bei Bizet, dass diese Musik eigentlich gar nicht von ihm stammt, ist eine Anmerkung im Klavierauszug: „Nach einem spanischen Lied, das im Besitz des Verlages Ménestrel ist.“ Pech für Yradier, er bleibt der unbekannte Schöpfer dieser vor erotischer Ausstrahlung nur so strotzender Musik. Die Habanera an sich ist noch weiter gereist, denn sie stammt ursprünglich aus Kuba.

George Bizet: Carmen. Beginn der Habanera
George Bizet: Carmen. Beginn der Habanera

In „Carmen“ sind die Helden Figuren des Alltags

Célestine Galli-Marié als "Carmen". Gemälde von Prosper Mérimée
Célestine Galli-Marié als „Carmen“. Gemälde von Prosper Mérimée

Carmen wurde als Opéra-comique komponiert, einer Form des Musiktheaters, in der wie beim deutschen Singspiel geschlossene Musiknummern im Wechsel mit gesprochenen Dialogen stehen. Sie galt als Gegenstück zur Hofoper bzw. im 19. Jahrhundert zur Grand Opéra. Der Aufmarsch der Kinder in Carmen wirkt in diesem Zusammenhang eher wie eine Parodie auf einen echten Soldatenaufmarsch, wie er in der Grand Opéra üblich gewesen wäre. Dennoch bedeutete „comique“ nicht unbedingt komisch, sondern oft einfach anrührend. Helden waren Figuren des Alltags. „Carmen“ verhalf der Opéra comique, deren Blütezeit vorüber schien, etwas verzögert zu neuem Glanz, bevor sie durch das durchkomponierte Drame lyrique ersetzt wurde.

Die Mischung aus Schauspiel und Gesang war und ist schwer umzusetzen, denn Sänger sprechen oft nicht überzeugend, während Schauspieler meist nicht gut singen können. Doch davon unabhängig kamen Dialoge in Frankreich Ende des 19. Jahrhundert ohnehin aus der Mode. So wurden für viele Opern nachträglich Rezitative eingefügt, mal von den Komponisten selbst, im Fall von „Carmen“ aber durch Bizets Freund Ernest Guiraud (1837–1892).

Celéstine Galli-Marié als Carmen bei der Uraufführung

Obwohl die Werke der Opéra-comique schlichter waren und sein sollten als die der Grand Opéra, schienen mit „Carmen“ viele der Beteiligten überfordert. Die Sängerin Marie Roze lehnte die Hauptrolle wegen des Charakters ab, und erst nach langem Ringen konnte Celéstine Galli-Marié überzeugt werden. Trotz der mehr als hundert Proben (davon 81 mit den Sängern) sah Bizet sich genötigt, einige Chorpassagen zu streichen, darunter auch solche, in denen der Chor gar nicht singt, sondern nur agiert.

Die von Bizet selbst ausgesuchte Textgrundlage wurde bei der Bearbeitung zum Opernlibretto stark verändert. Aus dem unglücklichen Stierkampfgehilfen Lucas wird der strahlende Torero Escamillo. Micaëla wird als „Gegenspielerin“ zu Carmen erfunden, hat gegen diese aber trotz Sopranlage weder musikalisch noch als Figur eine ernsthafte Chance.

Die Sprengkraft steckt in der Handlung

„Carmen“ war nicht von vornherein erfolgreich. Mit einzelnen Musiknummern sowie in der ganzen Tonsprache konservativ, steckt die Sprengkraft einzig in der Handlung. Eine Geschichte um Schmuggler, Soldaten und Arbeiterinnen wäre vom Uraufführungspublikum vermutlich akzeptiert worden. Doch mit der Figur der Carmen – selbst im Milieu des einfachen Volks als „Zigeunerin“ am Rand der Gesellschaft – geht Bizet weit über das in der Opera-comique Übliche hinaus.

Durch ihren Drang nach einem selbstbestimmten Leben, das dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht entspricht, aber auch durch ihre erotische Ausstrahlung schafft sie es, einem Soldaten, dem tragischen Helden Don José, derart den Kopf zu verdrehen, dass dieser desertiert und zum Schluss sogar zum Mörder wird. „Carmen bleibt sich bis zuletzt treu – und José fremd“, wie Mathias Husmann in den 99 Präludien schreibt. Es war nicht nur der fehlende heitere Schluss: Auch sonst bot die Oper für die damaligen Zuschauer zu viel des Neuen und Anrüchigen. Den bald einsetzenden, riesigen Erfolg erlebte Bizet nicht mehr: Er starb drei Monate nach der Uraufführung. Doch schon 1905 wurde die 1000. Aufführung der Oper vermeldet.

Guirauds Bearbeitung für die zweite Produktion

Nach dem Misserfolg in Paris stellte sich als zweites Theater für eine Produktion aus­gerechnet die Wiener Hofoper zur Verfügung. Guiraud fügte hierfür allerdings nicht nur 15 Rezitative, sondern auch drei Tanzeinlagen im letzten Akt, basierend auf anderen Werken Bizets, ein: Der Schauspielmusik zu „L’Arlésienne“ und der Oper „Das Mädchen aus Perth“. Auf der anderen Seite strich er einen Chor vom Anfang und eine Strophe aus dem Duell Don José/Escamillo. Die ersten Notenausgaben gaben diese bearbeitete Fassung wieder. Die angeblich für Wien bestellten Rezitative wurden schließlich aus unbekannten Gründen wieder gestrichen – vielleicht, weil keine Zeit für die Einstudierung blieb, vielleicht aber auch, weil Ende des 19. Jahrhunderts in Wiener Opernaufführungen noch gesprochene Dialoge üblich waren.

Die wichtigsten Fakten zu Bizets „Carmen“:

Orchesterbesetzung: Zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, vier Hörner, zwei Pistons (Trompeten), drei Posaunen, Schlagzeug inklusive Kastagnetten, Harfe, Streicher. Bühnenmusik: zwei Pistons, drei Posaunen

Spieldauer: 2 ¾ Stunden

Uraufführung: Die Uraufführung fand am 3. März 1875 in der Operá comique in Paris statt.

Referenzeinspielung

Bizet: Carmen

Teresa Berganza, Plácido Domingo, Ileana Cotrubas, London Symphony Orchestra, Claudio Abbado – DGG 1977

Es gibt zahlreiche Aufnahmen der Oper. Die meisten verwenden die Fassung mit hinzugefügten Rezitativen. Claudio Abbados Produktion von 1977 ragt schon deshalb heraus, weil er sich an Bizets Original hielt. Keine Balletteinlage, aber auch keine Kürzungen, wie sie sich lange eingebürgert hatten. Dafür enthält die CD die originalen Dialoge. Wie gut die Sänger französisch sprechen, kann nur ein Muttersprachler beantworten. Für den deutschsprachigen Hörer klingt es allemal überzeugend – zumal die Regie die Dialogszenen fast hörspielartig angelegt hat. Auch musikalisch kann die CD absolut überzeugen – mit Teresa Berganza in der Hauptrolle, Plácido Domingo in seinen besten Jahren und Claudio Abbado, der das London Symphony Orchestra ordentlich zum Glühen bringt.

Termine

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Präludien

(UA Paris 1875) Buchcover Präludien fürs Publikum Das Vorspiel möchte man gleich im Schlagzeug mitspielen: Alle vier Sekunden kickt ein fetziges Zisch-Bumm die rassige Arenamusik in eine andere Tonart! Das hereinstolzierende Toreador-Lied möchte man gleich mitsingen! Zwar ist der Stierkampf heute in Spanien fast abgeschafft, aber in der Oper Carmen lebt er fort, zumal es eigentlich um den Geschlechterkampf geht, der keineswegs abgeschafft ist. In der Arena stirbt der Stier, vor der Arena stirbt Carmen. Ihre Lebensmelodie ist ein lang gezogener Valse in Zigeunermoll, leidenschaftlich in Violoncelli und Fagotten, düster in Trompeten und Klarinetten, mit sarkastischen Nachschlägen in Hörnern, Harfe, Pauke und Bässen, angerissen von einem wilden Streichertremolo auf leeren Saiten: kalt und rau. Unüberhörbar steuert die Melodie auf einen Eklat zu … eine fantastische, sehr französische Partitur: hart und klar. Während ihrer Zigarettenpause auf dem Platz vor einer Tabakfabrik fällt Carmen ein Wachsoldat auf, der sein Gewehr putzt. Er beachtet sie nicht, das reizt sie: Sie wirft ihm eine Blume zu und läuft ab. Damit beginnt Don Josés mörderische Karriere als Figur und als Tenor … Mit dem Landmädchen Michaela, das ihm Geld und Kuss von seiner Mutter bringt, singt er zunächst – zartfühlend wie ein Operettentenor – ein heimatseliges Duett. Da hört man Schreie in der Fabrik: Carmen hat eine Messerstecherei inszeniert, damit José sie ins Gefängnis bringen muss. Er lässt sie entkommen. Dafür wird er selbst eingesperrt und degradiert. In einer Schmugglerspelunke wartet Carmen auf José, um sich für seinen Liebesdienst zu revanchieren. Ihre Kolleginnen und zwei Schmuggler verspotten sie wegen ihrer angeblichen Verliebtheit in einem brillanten Quintett. Der berühmte Toreador Don Escamillo zieht vorbei und macht Carmen Avancen. Sie lacht ihn aus. Als José – frisch aus dem Gefängnis – erscheint, tanzt sie für ihn zu Kastagnettenbegleitung. Er zeigt ihr ihre – verwelkte – Blume, und seine Stimme erblüht zu einem lyrischen Tenor. Darüber verpasst er den Zapfenstreich. Eine Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten zwingt ihn zur Fahnenflucht. Mit den Schmugglern wird José nicht warm. Carmen verachtet ihn. Als Escamillo auftaucht, erwacht seine Eifersucht und damit der dramatische Tenor in ihm. Michaela hat das Schmugglernest ausfindig gemacht, um José zu seiner sterbenden Mutter heimzuholen. Carmen will Escamillo beim Stierkampf erleben, doch vor der Arena versperrt ihr José – mittlerweile zu einem haltlosen Heldentenor verkommen – den Weg. Die Zigeunerin Carmen bleibt sich bis zuletzt treu – und José fremd. Sie geht ihren Weg, den ihr die Karten geweissagt haben. Der Soldat José ist die tragische Figur dieser vitalen Oper, in der es von Tanzliedern wie Habanera und Seguidilla und von fulminanten Chören nur so wimmelt: Kinder, Soldaten, rauchende und streitende Fabrikarbeiterinnen, Schmuggler, Händler, Polizisten, und die stierkampfbegeisterte Volksmenge. Die Chorist/inn/en der Opera comique hatten nichts zu lachen! Die Entstehungs-, Aufführungs- und Editionsgeschichte dieser Oper ist kompliziert, doch – ob mit Dialogen oder mit Rezitativen, ob mit oder ohne Ballett – Carmen geht ihren Weg. (Mathias Husmann)
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