„Die Neunte ist Fragment geblieben – ein vollendetes Fragment: zwei feierlich ruhige Sätze umrahmen ein totentanzähnliches Scherzo, das seinerseits ein traumartig dahinhuschendes Trio umfasst – dieses ungreifbarste aller Bruckner’schen Wesen wird zum lächelnden Mittelpunkt dieses tiefernsten Werkes“, fasst Mathias Husmann in seiner Werkeinführung Bruckners neunte Sinfonie zusammen.
Schwer krank aber entschlossen
Nach ersten Überlegungen zu seiner neunten Sinfonie im Sommer 1887, begann Bruckner das feierliche Adagio im April 1894 zu skizzieren. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist bereits seit zwei Jahren krank. Neben Herz- und Niereninsuffizienz, litt er zudem an Atemnot und Wassersucht. Er war durchdrungen von Todesahnungen: „Ich mag die Neunte gar nicht anfangen, ich traue mich nicht, denn auch Beethoven machte mit der Neunten den Abschluss seines Lebens“, erklärte Bruckner einmal seine Scheu, die Komposition einer neunten Sinfonie in Angriff zu nehmen.
Den elegischen Tubensatz im Adagio wollte er bezeichnenderweise als „Abschied von Leben“ aufgefasst wissen. Ein Miserere-Ruf aus dem Gloria der d-Moll-Messe ist das Hauptthema seines Adagio. Zu seinem Arzt Dr. Heller sagte er, er hoffe, dass „der liebe Gott“ ihm so viel Zeit schenken werde, um sein letztes Werk vollenden zu können. Doch das Finale ist lediglich in ausgearbeiteten Skizzen erhalten. Dem Schwerkranken war es nicht mehr vergönnt, diesen Satz zu vollenden. Jedoch konnte er noch die Bitte äußern, als Abschluss der Sinfonie sein „Te Deum“ aufzuführen, das als sein Lieblingswerk galt.
Vollendung im Unvollendeten
Der Wiener Dirigent und Testamentszeuge Ferdinand Löwe leistete dem Vorschlag des Komponisten bei der Uraufführung 1903 zwar Folge und verwendete das „Te Deum“ als Finale, nahm es aber nicht in seine Ausgabe der Sinfonie auf. Seiner Meinung nach bedürfe die neunte Sinfonie keines Finalsatzes – dieser Auffassung folgten auch die meisten Dirigenten, was dazu führte, dass die Neunte, trotz zahlreicher Rekonstruktionsversuche, vorrangig als dreisätziges Werk aufgeführt wird.
Bis zu seinem Tod arbeitete Anton Bruckner zehn Jahre an dem Werk, das wesentlich zur Mystik des Komponisten beigetragen hat. Seine siebte Sinfonie widmete er König Ludwig II. von Bayern, seine Achte Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, doch seine neunte Sinfonie wollte er der „Majestät aller Majestäten“ widmen: dem „lieben Gott“.
Die wichtigsten Fakten zu Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109 „Dem lieben Gott“:
Satzbezeichnungen
1. Satz: Feierlich, Misterioso
2. Satz: Scherzo: Bewegt, Lebhaft – Trio: Schnell
3. Satz: Adagio: Langsam, Feierlich
Orchesterbesetzung
Drei Flöten, drei Oboen, drei Klarinetten in B, drei Fagotte, acht Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Kontrabasstuba, Pauken, Streicher
Spieldauer
ca. 61 Minuten
Die Uraufführung der neunten Sinfonie fand am 11. Februar 1903 in Wien durch das Wiener Concertvereinsorchester – später Wiener Symphoniker – mit instrumentalen Änderungen unter der Leitung von Ferdinand Löwe sowie am 2. April 1932 in München unter der Leitung von Siegmund von Hausegger in der Originalfassung statt.
Referenzeinspielung
Günter Wand-Edition
Bruckner: Sinfonien Nr. 3, 7-9
NDR Sinfonieorchester, Günter Wand (Leitung)
Profil (7 CDs)
Von 1982 bis 1991 war Günter Wand Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, danach Ehrendirigent bis zu seinem Tod 2002. In dieser Zeit entstanden die Tonaufnahmen zu dieser Box, die durch ihre exemplarischen Interpretationen bald zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Qualität des Orchesters beigetragen haben. Günter Wand war einer der außergewöhnlichsten Interpreten, dessen Aufführungen wie auch Aufnahmen von einem hohen Maß an Eigenständigkeit sowie Sorgfalt bis ins kleinste Detail gekennzeichnet sind. Der Dirigent beschäftigte sich stets umfassend mit den Werken und deren Komponisten, was zu einer unnachahmlichen Durchdringung des spirituellen Geistes der Musik führte.